Tod von Muriel Furrer muss zum Umdenken führen

Kommentar: Auf Technologie zu verzichten, ist grob fahrlässig

Von Felix Mattis kommentiert

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Muriel Furrer (15. Juli 2006 - 27. September 2024) | Foto: UCI

03.10.2024  |  (rsn) – Eine Woche ist vergangen, seit Muriel Furrer im WM-Straßenrennen der Juniorinnen in der Abfahrt durch die Schmalzgruebstrasse im Wald hinunter nach Küsnacht gestürzt ist und sich dabei ein so schweres Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hat, dass sie am Tag darauf in der Universitätsklinik von Zürich verstarb. Eine Woche, in der nach und nach immer mehr Dinge ans Licht gekommen sind, die das Ausmaß der Katastrophe um die 18-jährige Schweizerin aufzeigen und klarmachen, dass man im Radsport einige Entwicklungsschritte verpasst hat.

Die Athleten-Sicherheit ist seit Jahren ein immer wieder diskutiertes Thema. Im Fall von Furrer stehen dabei – auch wenn Mainstream-Medien und Außenstehende zunächst nahezu reflexartig Fragen nach zu hohen Geschwindigkeiten und zu gefährlichen Streckenführungen aufwarfen – vor allem Zustände im Fokus, die das sonst bisher kaum taten, und umso mehr hinterfragt werden müssen.

Nachdem sich die UCI mit Sportdirektor Peter Van den Abeele sowie Präsident David Lappartient am Freitag und am Samstag sowie auch Olivier Senn als Leiter des Züricher Organisations Komitees auf Pressekonferenzen nicht zu Einzelheiten geäußert und auf die laufenden Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft verwiesen hatten, hat letztere zu Wochenbeginn das bestätigt, was seit Freitag in Zürich bereits kursierte:

Die 18-jährige Schweizerin lag nach ihrem Sturz in einer Linkskurve lange Zeit schwer verletzt und unentdeckt im Unterholz – mindestens 75 Minuten - und erst zweieinhalb Stunden nach dem Unfall landete der Rettungshelikopter an der Universitätsklinik.

WM-Organisatoren wollen der UCI Druck machen

Es ist schockierend, dass das überhaupt möglich ist: Eine Athletin verschwindet während eines Weltmeisterschaftsrennens und niemand weiß, wo sie ist. "Das kann in der Tat leider passieren – darf nicht, aber kann passieren", stellte Senn nun am Mittwoch auf einer weiteren Pressekonferenz fest. Für den Schweizer dabei besonders wichtig: Das darf zukünftig auf keinen Fall noch einmal passieren.

Man wolle nun bei der UCI "Druck machen, dass sich jetzt etwas bewegt", so Senn, der auch an die tödlichen Unfälle von Gino Mäder vor zwei Jahren bei der Tour de Suisse sowie André Drege am 6. Juli diesen Jahres bei der Tour of Austria erinnerte. Beide stürzten ebenfalls in einer Abfahrt so weit von der Straße herunter, dass vorbeifahrende Kontrahenten und auch Begleitfahrzeuge sie zunächst nicht sehen konnten. Zwar dauerte es bei beiden nicht so lange, wie bei Furrer, bis sie gefunden wurden. Doch auch bei ihnen wäre das möglich gewesen.

Bislang nur Arbeit an Unfallvermeidung, kaum an Unfallversorgung

Das Fatale ist: Bislang dachte man im Radsport rund um das Thema Sicherheit in erster Linie darüber nach, wie man Unfälle verhindert oder Sturzrisiken verringern kann. Diesbezüglich ist auch im Fall Furrer kaum etwas vorzuwerfen. Die Abfahrt nach Küsnacht war nicht außerordentlich schwierig oder gefährlich, der Asphalt gut. Furrer, die nur wenige Kilometer entfernt in Egg wohnte, kannte die Straße bestens und auch von anderen WM-Teilnehmern oder -Teilnehmerinnen hörte man vor Ort in Zürich keine Kritik an der Streckenführung – im Gegensatz zur im Einzelzeitfahren verwendeten Abfahrt übrigens, auf der glücklicherweise nichts passierte.

Doch die Verbesserung der Erstversorgung und von möglichen Rettungsmaßnahmen in extremen Notsituationen wurde trotz der alarmierenden Todesfälle von Mäder und Drege nicht konsequent angegangen. GPS-Tracker sind teilweise zwar an den Rennrädern angebracht, dienen aber eher zum Entertainment der Fans, nämlich als Informationsquelle für TV-Übertragungen, wie weit einzelne Gruppen im Rennen voneinander entfernt sind. Dasselbe gilt für Onboard-Kameras, die aufregende TV-Bilder produzieren sollen. Beides sind Technologien, die schon lange auch hätten genutzt werden können, um Stürze festzustellen und schnellere Hilfsmaßnahmen zu ermöglichen.

Funk ermöglicht Rennfahrern, Stürze von anderen zu melden

Hinzu kommt der Rennfunk, der bei Weltmeisterschaften grundsätzlich verboten ist und über dessen Abschaffung die UCI momentan grundsätzlich berät, weil Fahrer und Fahrerinnen von ihren Teamleitungen per Funk unter Stress gesetzt würden, damit sie sich an neuralgischen Streckenpunkten weit vorne aufhalten und sich daher Stürze häuften, weil alle nach vorne drängen.

Bei trotzdem geschehenen Stürzen allerdings ist der Funk eben vor allem eins: ein sehr wichtiges Hilfsmittel, um auf den Unfall hinzuweisen. Sieht ein Radprofi einen Kontrahenten von der Straße abkommen, greift er zum Funk und gibt die Info nach hinten weiter, so dass Begleitfahrzeuge nach dem Gestürzten schauen können. Nimmt man den Fahrern den Funk, so eliminiert man sie als wichtige Informationsquelle innerhalb des Rennens.

Wie der Schweizer Blick am Mittwoch berichtete, haben die 400 Meter vor der Unfallstelle aufgezeichneten Video-Aufnahmen eines Blick-Lesers geholfen, zwei Fahrerinnen zu identifizieren, die nur wenige Meter hinter Furrer in die Abfahrt in den Wald gestartet waren. Ihre Identität sowie Nationalität wurde nicht genannt, um sie vor Anfeindungen zu schützen. Allerdings bestätigte ein Sprecher des Verbands der einen Fahrerin dem Blick, dass sie mitbekam, wie Furrer von der Straße abkam, den Sturz an sich aber nicht gesehen habe. Man wollte den Behörden bei der Untersuchung des Falles helfen, hieß es. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft am Montag mitgeteilt, dass bislang keine Zeuginnen oder Zeugen bekannt seien.

Dass Sportlerinnen oder Sportler im Rennen nicht anhalten, wenn die Konkurrenz stürzt, ist gerade Nachwuchsfahrerinnen oder Nachwuchsfahrern kaum vorzuwerfen. Ja, vielleicht sollte man auch das erwarten können, gerade bei kleineren, weniger professionellen Rennen. Aber in einem Groß-Event wie einer Weltmeisterschaft sollten sich Sportlerinnen und Sportler doch darauf verlassen können, dass der gestürzten Person von Begleitfahrzeugen, Ordnern oder anderen Offiziellen geholfen wird.

Funk, GPS-Tracker, Onboard-Kameras – Technologie längst da

Mit Funk hätten rennfahrende Unfallzeugen die Chance, sicherzustellen, dass das passiert. Mit GPS-Trackern, idealerweise an der Rückennummer oder dem Helm angebracht, die ein Signal geben, wenn sie sich nicht mehr fortbewegen – sowohl elektronisch an die Jury, als auch vielleicht sogar akustisch vor Ort an der Unfallstelle – könnte man Stürze, die niemand gesehen hat, sehr schnell bemerken. Und wenn eine Onboard-Kamera nur noch den Himmel, den Boden oder ein Gebüsch filmt, sollte auch das im Ziel einer Video-Jury auffallen. All diese längst verfügbaren Technologien, die Hobby-Sportler teilweise schon nutzen, um sich abzusichern und ihre Familie daheim während des Trainings auf dem Laufenden zu halten, wo sie sind, waren in Zürich im Rennen der Juniorinnen nicht im Einsatz.

Was aber zum Einsatz kam, war die klassische Zeitmessung im Ziel beziehungsweise bei der ersten Zielpassage. Dort war Furrer eine von zwei Fahrerinnen, die keine Zwischenzeitmessung auslösten. Spätestens als nach 1:33:31 Stunden Rennzeit mit der Rumänin Elisa Natalia Mare die letzte Fahrerin vor dem Besenwagen dort vorbeikam, hätte das auffallen müssen – ziemlich genau eine halbe Stunde nach Furrers Sturz.

Fehler im Peloton: Verletzungen der Abmeldepflicht

Ob sich die Zeitnehmer und die Jury dort sofort erkundigten, wo die 18-jährige Schweizerin ist, ist nicht bekannt. Allerdings wäre es wenig verwunderlich, wenn sie das nicht getan hätten. Denn auch wenn die UCI-Regularien vorschreiben, dass man sich beim Verlassen eines Rennens bei einem Kommissär oder dem Besenwagen abmelden muss und Zuwiderhandlung laut Strafenkatalog 200 Schweizer Franken Strafe mit sich zieht, so fahren viele Radprofis bei Eintagesrennen vorzeitig zum Mannschaftsbus, ohne vorher Bescheid zu sagen. Es darf also kaum wundern, wenn erfahrene Zeitnehmer und Kommissäre im Ziel nicht mehr stutzig werden, dass jemand fehlt. Zu oft passiert es, dass das auf nicht gemeldete Rennaufgaben zurückzuführen ist.

Das zeigt: Nicht nur von offizieller Seite, sondern auch aus dem Peloton selbst heraus muss ein Umdenken stattfinden und mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie wichtig so mancher Routine-Ablauf ist – auch wenn er für einen persönlich zunächst als irrelevant und lediglich nervig angesehen wird.

Sicherheit in Ausnahmesituationen muss oberste Priorität haben

Niemand weiß, ob Muriel Furrer noch leben würde, wenn sie innerhalb weniger Minuten aus dem Wald von Küsnacht geborgen und ins Krankenhaus gebracht worden wäre. Und ja, auch moderne Technologien wie GPS-Tracker können mal versagen und eventuell für Fehlalarm sorgen.

Doch wenn der Hausnotrufdienst der Johanniter Unfall Hilfe, des ASB oder des Roten Kreuzes nachts ausrückt, weil bei einem 90-jährigen Kunden der Alarm angeschlagen hat, dann trifft er in den allermeisten Fällen auch nur einen alten Mann an, der vergessen hat, sich im Lauf des Tages zu melden und dann vor dem Fernseher eingeschlafen ist. Für die wenigen Ausnahmen, bei denen wirklich etwas passiert ist, kann das automatisierte Nachsehen aber lebensrettend sein.

Wenn also weiter Technologien, die im Fall eines Unfalls im Radrennen zu schnelleren Rettungsmaßnahmen führen können, bei den größten Radrennen der Welt nicht zum Einsatz kommen, ist das grob fahrlässig.

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