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15.05.2023 | (rsn) - Marlen Reusser stoppte am Ende der langen Zielgeraden vor dem prunkvollen Rathaus von San Sebastian und freute sich: Etappensieg als Solistin zum Abschluss der Itzulia Women, das war bereits ein schöner Erfolg. Doch als sie sich umdrehte und den Boulevard Zumardia hinunterblickte, wurde ihr klar: Der Vorsprung auf die Verfolgerinnengruppe um ihre in der Gesamtwertung bis dahin führende Teamkollegin Demi Vollering war groß. Sehr groß. So groß, dass Reusser und die bis dahin so dominante Niederländerin sogar noch die Plätze in der Endabrechnung tauschten.
Als dann nach 2:38 Minuten Vollering als Zweite ins Ziel kam, waren die Umstehenden gespannt: Wie würde die Niederländerin darauf reagieren, dass ihre Schweizer Mannschaftskameradin zwölf Kilometer vor Schluss attackiert hatte, im Solo zum Sieg durchzog und ihr das Führungstrikot abknöpfte, während Vollering in der Verfolgerinnengruppe die Hände gebunden waren?
Die eigene Teamkollegin zu jagen, das hätte arg nach Uneinigkeit ausgesehen - gerade nach dem bereits komisch wirkenden Finale der Strade Bianche mit dem SD-Worx-Doppelsieg von Vollering und Lotte Kopecky, bei dem die Beiden gegeneinander gesprintet waren und die ersten Szenen im Zielraum anschließend wenig freundschaftlich wirkten.
___STEADY_PAYWALL___ Doch von Animositäten war in San Sebastian am Sonntagabend nichts zu spüren. Vollering rauschte, nachdem sie den Sprint um Etappenrang zwei für sich entschieden hatte, auf Reusser zu, bremste und fiel der der Siegerin um den Hals. Beide drückten sich Küsse auf die Wangen und Reusser bedankte sich begeistert: "Demi, Du bist nicht normal! Danke! Nein, wirklich! Vielen, vielen Dank! Ich weiß, dass Du mir das geschenkt hast. Das werde ich Dir nicht vergessen! Danke!"
Eine innige Umarmung: Demi Vollering (rechts) und Marlen Reusser fallen sich im Ziel der Itzulia Women in San Sebastian um den Hals. | Foto: Cor Vos
Vollering antwortete lachend, dass Reusser so stark gewesen sei, aber die schüttelte den Kopf: "Nein, nein, nein! Du weißt, dass Du die Stärkste hier warst!" Als ihr Sekunden später das Mikrofon von Radio Euskadi unter die Nase gehalten wurde, unterstrich sie: "Das war wirklich eine Teamleistung. Demi ist so stark und sie hat mir das geschenkt!" Vollering schüttelte zwar den Kopf, als sei ihr die Aufmerksamkeit unangenehm, doch Reusser legte strahlend nach: "Doch, das hast Du! Du hättest auch fahren können."
Und fahren hätte Vollering tatsächlich können - nämlich schon, bevor Reusser sich allein abgesetzt hatte. Denn im letzten Anstieg des Tages, dem steilen Mendizorrotz, waren sie und Annemiek van Vleuten (Movistar) knapp 30 Kilometer vor Schluss allein der Konkurrenz enteilt. Hätten sie zusammengearbeitet und wäre es auf ein Sprintduell der Beiden hinausgelaufen, Vollering wäre die klare Favoritin auf den Etappensieg gewesen und hätte ihre lupenreine Baskenland-Weste mit dem sechsten Sieg auf der sechsten Etappe in der Geschichte des Rennens wohl behalten - genau wie das Gelbe Trikot.
Weil van Vleuten aber als Gesamtfünfte nur 15 Sekunden hinter der bis dato Zweiten Reusser in der Gesamtwertung lag, verweigerte Vollering die Zusammenarbeit mit ihrer Landsfrau, saß nur an deren Hinterrad und wartete, bis Reusser mit Katarzyna Niewiadoma (Canyon - SRAM) und Olivia Baril (UAE Team ADQ) im Schlepptau wieder herankam.
Der entscheidende Moment: Marlen Reusser setzt zum Solo an und dahinter nimmt niemand sofort die Verfolgung auf. | Foto: Cor Vos
Anschließend attackierte Reusser, hatte aber die Gesamtdritte Niewiadoma am Hinterrad und deshalb führte Vollering die Gruppe mit kurzer Nachführarbeit nochmal zusammen. Die Frau in Gelb beschleunigte selbst noch einmal und bereitete damit Reussers zweiten Vorstoß vor, der dann saß: Die 31-Jährige fuhr allein davon und dem Sieg entgegen, während Vollering dahinter nur noch aufpasste, dass ihr keine Kontrahentin mehr entwischte, um hinter Reusser her zu jagen. Ihr Gelbes Trikot verteidigte sie dagegen nicht.
"Ich habe mich in der Gruppe darauf konzentriert, dass niemand mehr von hinten attackiert und ohne mich wegfährt und näher an Marlen rankommt. Das war meine einzige Sorge", erklärte Vollering anschließend gegenüber radsport-news.com.
Da sich ihre Begleiterinnen uneinig waren, funktionierte die Verfolgung in der Gruppe kaum und der Vorsprung von Reusser wuchs bereits, bevor es auf die letzten drei Kilometer ging, auf eine Minute an, so dass klar war: Das ist der Gesamtsieg. Am Ende standen sogar 2:38 Minuten auf der Uhr, als Vollering aus der Gruppe als Zweite ins Ziel spurtete, weil es bei den Verfolgerinnen noch Stehversuche vor dem Sprint gab. Doch das änderte ohnehin nichts mehr.
Das Podium der 2. Itzulia Women: Marlen Reusser siegt vor Demi Vollering (beide SD Worx) und Katarzyna Niewiadoma (Canyon - SRAM, rechts). | Foto: Cor Vos
"Ich muss wirklich sagen, dass das ein sehr besonderes Geschenk von Demi ist", erklärte Reusser und ging gegenüber radsport-news.com dann auch ins Detail: "Als wir heute im Teammeeting die Taktik besprochen haben, war die Frage: Verteidigen wir einfach die Plätze 1 und 2 in der Gesamtwertung? Besser ging es ja eigentlich eh nicht. Aber wir haben gesagt, dass das nicht Team SD Worx wäre. Wir wollten die anderen Teams zwingen, zu reagieren und selbst agieren. Deshalb habe ich Demi dort gefragt, ob es für sie denn auch okay wäre, wenn das zu einer Veränderung in der Gesamtwertung führen würde und ich gewinne. Darauf sagte sie: 'Ja.' Da dachte ich schon: Sie ist wirklich ein Champ, wenn sie bereit ist, so etwas wegzugeben. Und genau das hat sie heute getan. Man konnte sehen, dass sie die Stärkste war. Deshalb bin ich wirklich dankbar."
Im Team-Meeting war radsport-news.com nicht dabei, um Reussers Schilderung bestätigen zu können. Dass der Platztausch auch für Vollering in Ordnung ging, bestätigte die Niederländerin schließlich aber selbst: "Ich bin wirklich superhappy, dass Marlen heute den Sieg holen konnte. Wir sind füreinander gefahren und waren im Team in den letzten Tagen einfach glücklich. Alle Mädels so happy zusammenarbeiten zu sehen und wie sie alles füreinander geben, das ist einfach großartig. Dafür bin ich sehr dankbar. Und sie jetzt so glücklich zu sehen, macht mich wirklich stolz."
Während Vollering die Premiere der Baskenland-Rundfahrt und die Women's Tour in England 2021 sowie alle Ardennenklassiker, La Course by Le Tour und Strade Bianche bereits in ihren Palmares stehen hat, war es für Reusser nach ihrem Gent-Wevelgem-Sieg im März der erste WorldTour-Rundfahrterfolg nach zwei zweiten Plätzen bei der heutigen Simac Ladies Tour und der damals noch kürzeren und weniger bedeutenden Vuelta.
Zum ersten Mal nah dran am Rundfahrtsieg war Marlen Reusser bei der Simac Ladies Tour 2021. Dort verlor sie das Gelbe Trikot am Ende nur um 17 Sekunden an Chantal van den Broek-Blaak. | Foto: Cor Vos
"Ich hatte 2021 ein sehr gutes Jahr und war damals zweimal Zweite in WorldTour-Etappenrennen. Letztes Jahr war dann etwas schwierig, aber umso schöner ist es jetzt, diesen Erfolg zu holen", so Reusser, die mit dem Erfolg aus dem Baskenland im Rücken auch mit viel Selbstvertrauen zur Tour de Suisse im Juni reisen wird. "Als ich herkam, wusste ich, dass hier viele steile Anstiege warten. Deshalb war ich noch etwas skeptisch", sagte Reusser, die dann aber auch bergauf immer zu den Besten gehörte und bestens vorbereitet auf ihre Heimat-Rundfahrt zu sein scheint, wo die ebenfalls in der Schweiz lebende Vollering womöglich nochmal für sie zurückstecken dürfte, wenn SD Worx es darauf ankommen lassen kann.
"Die Tour de Suisse ist dieses Jahr erstmals ein WorldTour-Rennen und das ist mein spezielles Ziel", erklärte Reusser und ergänzte: "Danach fahren wir bei der Tour de France dann alle einzig und allein für Demi."
Die 26-Jährige nämlich ist beim aktuellen Formstand, das hat sie nun mehrfach bewiesen, die Top-Favoritin für die Frankreich-Rundfahrt Ende Juli. Dass sie die Vuelta in der Vorwoche gegen van Vleuten verlor, lag mehr an einer schlecht getimeten Pinkelpause als an fehlender Stärke. Selbst in langen Anstiegen, wie dem zu den Lagos de Covadonga am Vuelta-Schlusstag, war Vollering in dieser Saison bislang stärker als die Überfliegerin der letzten Jahre.
Demi Vollering, hier beim Sieg auf der 2. Etappe der Itzulia Women ist 2023 bergauf bislang das Maß der Dinge. | Foto: Cor Vos
Bei der in dieser Woche nun anstehenden Burgos-Rundfahrt wird es zum Duell der Beiden an den Lagunas de Neila leider nicht kommen, weil van Vleuten das Rennen auslässt. Den Giro d'Italia Anfang Juli hat wiederum Vollering nicht im Programm. Gut möglich daher, dass es erst bei der Tour zum großen Showdown der beiden Niederländerinnen kommt. "Sicher haben die letzten Wochen mir ein gutes Gefühl gegeben", sagte Vollering. "Aber die Tour ist noch etwas weiter weg. Jetzt fahre ich erstmal Burgos und danach geht es ins Höhentraininingslager für die Tour. Darauf liegt dann der große Fokus!"
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