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20.06.2015 | (rsn) - Mit einem langen Sprint, aber auch mit Mut und zumindest theoretischer Streckenkenntnis hat Christine Majerus (Boels-Dolmans) in Kettering die 3. Etappe der Aviva Women's Tour für sich entschieden und das Gelbe Trikot von Lisa Brennauer (Velocio-SRAM) übernommen. Die Luxemburgerin gewann das mit 139 Kilometern längste Teilstück der Rundfahrt zwei Sekunden vor Barbara Guarischi (Velocio-SRAM) und der aus der Region stammenden Lucy Garner (Liv-Plantur).
„Ich wusste, dass da ein paar Kurven auf uns zukommen würden, und da bin ich nicht die Schlechteste. Das war mein Vorteil", erklärte Majerus radsport-news.com nach Rennen, Siegerehrung, Dopingkontrolle und obligatorischer Pressekonferenz, wo der Schlüssel zum Erfolg lag. Die 28-Jährige war zwar vorab nicht in Kettering gewesen, hatte die Zielankunft aber mit ihren Teamkolleginnen und dem Sportlichen Leiter Danny Stam im Roadbook eingehend studiert.
Das war in der Kleinstadt nordöstlich von Northampton Gold wert, denn der Schlusskilometer hatte es in sich: Zunächst ging es 500 Meter lang bergab an diversen Verkehrsinseln vorbei, dann führte die Straße unter einer Eisenbahnbrücke hindurch in einer Senke auf eine aus zwei Kreisverkehren zusammengesetzte Schikane zu, und von dort ging es 300 Meter lang bergan bis zur letzten 90-Grad-Linkskurve sowie einer 150 Meter kurzen Zielgeraden.
Als das Feld die Abfahrt hinunterrauschte, saß Majerus noch gar nicht allzu weit vorne, Brennauers Velocio-SRAM-Mannschaft schien alles im Griff zu haben. Doch beim Anbremsen für die knifflige Schikane schoss die Luxemburgerin am linken Straßenrand plötzlich an allen Kontrahentinnen vorbei. Lediglich Guarischi konnte ihr mit derselben Geschwindigkeit folgen, und während die Anderen rechts neben ihr stark bremsten und sich Velocios Vorderste, Elise Delzenne, sogar noch leicht versteuerte, kam das Duo Majerus-Guarischi mit einem kleinen Vorsprung sowie vor allem der deutlich höheren Geschwindigkeit aus der Schikane heraus.
„Als ich das gesehen habe, bin ich voll losgesprintet", so Majerus, die sich auf dem Weg hinauf zur letzten Kurve noch ein paar Mal umdrehte, aber immer wieder feststellen durfte, dass das Loch etwa gleich groß blieb. „Es ging noch mehr bergauf als ich dachte", gab sie zu. „Aber als ich einmal angefangen hatte, musste ich natürlich durchziehen. Ich bin froh, dass es geklappt hat."
Die Sprint-Spezialistin Guarischi musste gut 200 Meter vor dem Ziel, etwas vor der Linkskurve, abreißen lassen, und rettete sich nur noch gerade so vor Garner sowie Hannah Barnes (UnitedHealthcare) ins Ziel. Majerus aber büßte auch auf den letzten Metern kaum noch etwas ein, so dass es gut möglich ist, dass sie auch gewonnen hätte, wenn sie bis in den Anstieg gewartet hätte. Dass sie in diesem Jahr besonders gut drauf ist, hat Majerus jedenfalls schon häufiger gezeigt - mit insgesamt sechs Podestplätzen vor diesem Tag in Kettering.
„Ich bin in den großen Rennen für meine Leader gefahren, und wenn ich bei kleinen Rennen für mich fahren konnte, bin ich regelmäßig aufs Podium gekommen. Das war auch etwas frustrierend: Fünf Mal dritter Platz, das ist zwar schön, aber mann will auch mal gewinnen", sagte sie.
Die sonst treue Helferin hat beispielsweise beim Flèche Wallonne den Preis der kämpferischsten Fahrerin bekommen, obwohl sie gar nicht attackierte - sie wurde dort für ihren beinahe ununterbrochenen Einsatz an der Spitze des Feldes im Dienst von Megan Guarnier und Evelyn Stevens geehrt. Diesmal arbeiteten die Anderen für sie: „Meine Teamkolleginnen haben mich permanent aus dem Wind gehalten. Ich musste nur draufsitzen und abwarten."
Durch den Sieg übernahm Majerus auch die Gesamtführung. Sie liegt nun drei Sekunden vor Jolien D'Hoore (Wiggle-Honda), die an beiden Zwischensprints des Tages jeweils eine Bonifikations-Sekunde ergattert und Brennauer so schon unterwegs virtuell das Gelbe Trikot abgenommen hatte. Die Deutsche ist mit vier Sekunden Rückstand nun Dritte und bleibt kämpferisch: „Es ist weiter alles eng beisammen und es kann viel passieren", sagte sie radsport-news.com. Neben ihr hat Velocio-SRAM mit Guarischi (+ 10 Sekunden) hinter Emma Johansson (Orica-AIS / + 9) noch eine zweite Fahrerin in den Top 5, und auch Trixi Worrack (+ 19) ist als Zwölfte alles andere als außer Reichweite.
Trotzdem hat sich für die zwei verbleibenden Etappen nördlich von London die Ausgangssituation nun grundlegend verändert. Die deutsche Equipe kann oder muss sich nicht mehr aufs Verteidigen konzentrieren, sondern dürfte nun in die Offensive gehen, um Majerus' Boels-Dolmans-Mannschaft und auch D'Hoores Helferinnen von Wiggle-Honda unter Druck zu setzen.
Die Luxemburgerin, die auf die Dienste von der Deutschen Romy Kasper setzen kann, erklärte jedoch, dass das Gelbe Trikot zunächst nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stand. „Das ist ein Bonus. Ich bin heute nur um den Etappensieg gefahren", sagte sie. „Wir müssen jetzt schauen, ob es möglich ist, das Trikot zu verteidigen, weil wir nur noch zu fünft sind. Wir werden alles daran setzen."
Ob das aber bedeutet, dass Boels-Dolmans nun ausschließlich an der Spitze des Feldes Tempo macht, um das Trikot gegen Ausreißer zu verteidigen, ließ Majerus offen. „Mal sehen", lachte sie nach kurzem Überlegen.
Bevor Majerus in Kettering ihren Coup landete, hatte zunächst ein Ausreißertrio das Rennen bestimmt, das aus Chloe McConville (Orica-AIS), Heather Fischer (Nationalteam USA) und der später hinzugekommenen Sharon Laws (UnitedHealthcare) bestand. Die Spitzenreiterinnen hatten bis zu 3:45 Minuten Vorsprung und kamen auch noch mit 2:20 Minuten auf die letzten 25 Kilometer. Danach aber ließ ihnen das Feld keine Chance mehr und sorgte unter dem Tempodiktat von Velocio-SRAM sowie später von Wiggle-Honda für den Zusammenschluss.
Hinter Brennauer (6. Platz / + 2 Sekunden) und Worrack (8. / + 5) erreichten Kasper (35.), Claudia Lichtenberg (Liv-Plantur / 43.) und Ariane Horbach (Optum Kelly Benefit Strategies / 44.) sowie das Nationalmannschafts-Trio Kathrin Hammes (42.), Stephanie Pohl (49.) und Corinna Lechner (51.) das Ziel im Hauptfeld zwölf Sekunden nach Majerus. Dadurch musste Lechner das Trikot der besten Nachwuchsfahrerin nach einem Tag an die Tagesdritte Garner abgeben. Anna Knauer (Rabobank-Liv) wurde mit 41 Sekunden Rückstand 81. des Tagesklassements, Lisa Küllmer (Nationalteam) mit 1:14 Minute nach einem Vorderrad-Defekt 84. und Madeleine Ortmüller kam 12:15 Minuten nach Majerus als 87. ins Ziel.
Video-Interview mit Etappensiegerin Christine Majerus (Boels-Dolmans):