Radfahren und Abenteuer verbinden - vor der Haustür
Overnighter: Ein Fahrrad und ein Schlafsack...
Von Gunnar Fehlau
| Foto: pd-f.de/ Peter Bender
04.06.2018 |
Ein Fahrrad und ein Schlafsack: Mehr braucht es nicht für einen gelungenen "Overnighter". Die kurzen Fahrrad-Trips helfen, dem Alltags-Stress zu entfliehen und in der Natur neue Energie zu tanken. Zudem lernt man seine Heimat-Region besser kennen. Für Gunnar Fehlau, Gründer des "pressedienst-fahrrad", sind solche "Micro-Adventures" unverzichtbar: So kann er seine Leidenschaften Radfahren und Abenteuer verbinden. Eindrücke einer Fahrt schildert er hier.
Kaum 50 Meter von der Haustür entfernt steuere ich meinen treuen „Finder“ von Velotraum auf einen kleinen Weg durch eine Schrebergartenanlage. Vom glatten Asphalt der Stadt geht es auf Schotter und Splitt. Das Abenteuer kann beginnen. Auch heute genügen wieder nur wenige Kurbelumdrehungen und ich bin in einer anderen Welt.
In meiner Welt. Hier gibt es nur ich, mir und mich.
Kein Terminkalender, keine Elternabende, keine Meetings, keine Steuererklärung und keine Diskussionen über den Status der Beziehung oder die Erziehung pubertierender Jungs. Nur mein Rad, ich und das kleine Abenteuer bis zum nächsten Morgen. Die Losung lautet: Laktat, Landschaft, Lagerfeuer.
In der Bike-Szene heißt das Overnighter. Für mich ist es der Schlüssel zum ausgeglichenen Leben. Ausgleich trifft es sehr gut. Schließlich geht es um Balance, um Gleichgewicht. Hohe Lasten verlangen starke Gegengewichte. Oder halt einen entsprechend langen Hebel. Mein Hebel gegen übertakteten Alltag ist der Overnighter mit dem Rad: Ohne Maßnahmenpläne, Meilensteine oder 360-Grad-Feedback.
Allerdings: Dieser Passion frönt man in Deutschland
meist in einer Grauzone der Legalität. Das Errichten eines Nachtlagers ist nur mit Erlaubnis des Landeigentümers erlaubt. „Lager“ beginnt spätestens beim Aufbau eines Zelts. Und offenes Feuer ist in der Regel im Wald auch untersagt. Deshalb hat sich das ungeschriebene Gesetz etabliert, bei Waldbrandgefahr kein Feuer zu machen.
Ich halte es einfach: Bis zum nächsten Morgen passiert nur, was ich will, alles wird gemacht auf die Weise, die ich für richtig halte - und zwar in meinem Tempo. Jede Sekunde kann ich die Richtung, das Tempo und das Ziel ändern. Und das Tempo geht erst einmal in den Keller. Der Anstieg zur Diemardener Warte ist im alpinen Sinne keine Herausforderung, aber nach einer abgerundeten 50-Stunden-Woche und erheblicher familiärer Friktion vor dem Loskommen löst der Anpressdruck in den Beinen den Stress als Pulstreiber bündig ab.
Ist mir aber egal! Ich schalte in den leichtesten Gang
meiner Nabenschaltung und kurble genussvoll und langsam der Anhöhe entgegen. Dem Finder ist mein Tempo egal. Das Rad ist ein idealer Begleiter für Abenteuerfahrten, eine Mischung aus Mountainbike und Reiserad. Dank breiter Reifen, in meinem Fall „G-One“ von Schwalbe, ist der Fahrkomfort sowohl im Gelände als auch auf der Asphalt gegeben.
Zudem ist mein Rad mit einem Antriebsriemen von Gates ausgestattet. Der Vorteil des Riemens im Gelände: Schmutz ist einfach mit Wasser zu entfernen und man braucht im Gegensatz zur Kette kein Schmiermittel. Außerdem hält ein Riemen rund dreimal solange wie eine Kette, was ihn insbesondere für Vielfahrer und Weltreisende interessant macht.
Einen Hügel weiter plumpse ich ins Wendebach-Tal
und folge ihm für einige Kilometer ostwärts. Der Weg kreuzt den Bach einige Male. Es gibt kleine Fußgängerbrücken oder präparierte Flussquerungen für Forstfahrzeuge. Ich bahne mir den Weg durchs Wasser und ein Hauch von Kanada und totaler Freiheit wabert durch meinen ganzen Körper.
Anschließend führt mein Weg zum Hurkut-Stein im Rheinhäuser Wald. In der sagenumwobenen Felsspalte soll vor über 600 Jahren ein Einsiedler gelebt haben - kein schlechter Ort für eine Pause. Der idyllische Teich samt Bank vor der Höhle ist ideal. Im Anschluss geht es auf die Jägersteine, eine imposante Felsformation mit ebensolchem Ausblick.
Es ist später Nachmittag und ich mache mir langsam
Gedanken übers Abendessen: Als Prolog für den Abend gibt es ein Einzelzeitfahren durch den Wald zum nächstgelegenen Supermarkt. Ich liebe diese spontanen, lustvollen und vordergründig unnützen Wechsel aus kontemplativem Naturgenuss und testosterongetränkten Passagen harten Radsports. Ich bin halt en alter Pfadfinder und vormals zackiger Radsportler...
Im Rewe geht es weiter, wie im Wald: Es gibt, was mir gefällt und spontan in den Sinn kommt. Zwei gute Steaks, Gemüse, ein wenig Antipasti und Bier. Zugegeben, das ist eine Achillessehne des Overnighters: Glasflaschen und Mountainbike verstehen sich nicht sehr gut. Biergenuss und Dosen aber eben auch nicht so recht. Sicherheit gewinnt: Das Dosenbier wird in den wasserdichten Bikepacking-Taschen von Ortlieb verschwinden. Kaum länger als die Tagesschau dauert das Verproviantieren im Supermarkt, aber nach den einsamen Stunden im Wald fühlt es sich schon irgendwie fremd an.
Immer wieder faszinierend, wie schnell ich mich
beim Mäandern durch die Wälder rund um meinen Heimatort "entzivilisiere". An Fleischtheke und Kasse belasse ich es bei einem netten Bitte und Danke und gehe nicht auf die Smalltalk-Avancen der freundlichen Verkäuferinnen ein. Die "Laberschicht" in der dünnen Haut der Zivilisation mag manche Menschen wärmen, mich schreckt sie allzu oft.
Es ist Zeit, zurück in die Ein- und Achtsamkeit zu gehen. Zeit, zurück in den Wald zu fahren. Zeit, ein Lager für die Nacht zu suchen.
Ich pedaliere flussaufwärts durchs Garte-Tal und male mir aus, wie der ideale Biwak-Platz für heute Nacht aussehen sollte. Der Himmel ist wolkenlos, der Wind recht still und ich bin noch nicht all zu spät dran. Alles spricht für ein Biwak auf einem Hügel mit Blick in den Sonnenuntergang. Eine Schutzhütte oder Unterstand braucht es heute Nacht nicht. Dafür aber einen Platz, an dem sich gefahrlos ein grillgerechtes Feuer entfachen lässt.
Die Sache mit dem Feuer verhält sich für mich ähnlich
wie das Thema Bier: Sicherheit steht über allem. Kein Glas auf dem Rad und kein Feuer bei Waldbrandgefahr. Ich biege aus dem Garte-Tal südwärts in die Hügel ab, um auf eine Osthangseite zu gelangen. 200 Höhenmeter stellen sich mir in den Weg. Die Einkäufe machen sich bemerkbar und ich komme ordentlich ins Schwitzen. Der Preis für die Mühen ist ein neuer Biwak-Spot unterhalb einer Burg-Ruine mit perfektem Blick auf die Hügel des Weserberglands.
Mir bleibt sicher noch mehr als eine Stunde, bis die Sonne am Horizont hinter den Bergen verschwindet. Genug Zeit fürs Nixtun. Na gut: Kurz checke ich die Bundesliga-Ergebnisse, aber dann ist wieder Flug-Modus und das Lagerfeuer muss vorbereitet werden.
Die Sonne ist längst untergegangen, das Feuer hat mir zwei fantastische Steaks gegart und der Schlafsack ist ausgerollt. Fledermäuse kreisen ums Lager, Mücken haben den Weg soweit hoch in den Hügel nicht gefunden.
Zeit für einen Absacker. Heute gönne ich mir
eine seltene Freude, weil die Situation ausreichend sicher ist: Aus dem Schlafsack heraus ins Feuer zu schauen und dann irgendwann einfach einschlafen. Ich liebe das! Und auch der Overnighter-Morgen beginnt perfekt: mit einem Lagerfeuer. Das wärmt die Hände und sorgt für heißen Kaffee.
Für mich besteht der Unterschied zwischen den Nächten in der Natur und denen in geschlossenen Räumen in der Verkehrung der Erholung: Ich schlafe im richtigen Bett bequemer und körperlich erholsamer, aber nur in der Natur kommt der Geist wirklich zu Ruhe. Vor meiner Abfahrt entferne ich noch alle meine Spuren und packe meinen Müll wieder ein. Eine weitere Regel für einen Abenteuerradfahrer. Und so rolle ich kaum zwei Stunden nach dem Aufwachen zuhause auf den Hof und bin frisch und voller Tatendrang für einen tollen Tag mit der Familie.