Taylor Phinney, Alex Howes und Lachlan Morton beim Gravel-Klassiker - Rennbericht
Dirty Kanza: Education First fährt “Groad“
Von Stuart Downie
| Foto: Stuart Downie/ rapha.cc
08.06.2019 | Jedes Jahr am ersten Wochenende im Juni pilgern mittlerweile rund 2700 Fahrer zum Gravel-Race "Dirty Kanza" in den "Sunflower State" Kansas, um sich über 200 Meilen (rund 330 km; Anm. d.Red.) auf Schotterstraßen durch die Flint Hills zu quälen.
Was vor 13 Jahren mit nur 34 Rennfahrern begann, ist nun eines der beliebtesten Gravel-Events in Amerika. Unter den Teilnehmern waren dieses Jahr auch Taylor Phinney, Alex Howes und Lachlan Morton vom WorldTour-Team Education First. Hier ihre Erfahrungen auf Schotter:
Das "Dirty Kanza" ist die erste Station für die "Education First"-Fahrer
auf ihrem alternativen Rennkalender. Unter dem neuen Schlagwort "Groad", eine Kombination aus Gravel und Road, stehen beim Kanza echte Herausforderungen an: Bachdurchquerungen, massive Steinbrocken, quecksilbrige Temperaturen, 100-prozentige Luftfeuchtigkeit, Staub, Schmutz und Distanzen von bis zu 140 Kilometern zwischen den Verpflegungs-Stationen lassen an die glorreichen Tage der Grand Tours denken.
Und wer mag sie nicht, die guten alten Zeiten der Radrnnen? Tiefe Sonnenbräune, hohle Gesichter, Kings of Pain: undenkbar lange, nicht unterstützte Rennen, Ranglisten nicht mit Zehntelsekunden-, sondern in Minuten- und Stunden-Abständen, Gabel- und Rahmen-Brüche - das gibt es nur noch auf alten Fotografien, jedenfalls im Straßenrennsport.
Die wohl spannendsten Rennen im aktuellen
Radsport-Kalender sind die neuen, wie etwa Strade Bianche. Die weißen Schotterstraßen der Toskana haben einige der aufregendsten Rennen der letzten Jahre gezeigt, doch mit 184 km halten Radsportler sie nicht für einen echten Klassiker, weil sie nicht lang genug sind.
Dann gibt es Tro Bro Leon, ein Rennen auf den Feldwegen Nordfrankreichs, mit einem Schwein für den Sieger, oder das belgische Dwars Door Het Hageland, das beste Schotterrennen im Pro-Kalender - das niemand kennt.
Auftritt Dirty Kanza, im "sanften" Mittleren Westen
der USA, mit intensiver Hitze und Feuchtigkeit, aber auch einem Hauch frischer Luft. Hier entstand die Kategorie, die scherzhaft als "groad" bezeichnet wird, eine Kombination aus Schotter und Straßen. Das Kanza bietet den Profis von Education First, Alex Howes, Lachlan Morton und Taylor Phinney auf der Suche nach einer neuen Herausforderung etwas ganz anderes.
Das Kanza ist Katzenminze für Fans von Schotter- und Abenteuer-Rennen. Seit 2006 ist es von einem 200-Meilen-Rennen mit 34 Fahrern auf nun fünf Strecken von 25 bis 350 Meilen gewachsen, was jährlich Tausende anzieht. 2019 steht in Emporia Schotter für jeden Appetit auf der Speisekarte, was Fahrern aller Könnensstufen anzeiht, die hier gemeinsam am Start sind.
In den Tagen vor dem Rennen treffen sich die EF-Fahrer
Alex, Lachlan und Taylor in Boulder, Colorado. Sie wollen die ursprüngliche 200-Meilen-Distanz mit bis zu 14 000 Fuß zurücklegen. Die Zahlen sind eine Sache, aber trotz jahrelanger Rennerfahrung wissen alle drei, dass das Dirty Kanza einige unbekannte Größen enthält: Beim Briefing vor dem Rennen beschrieb Co-Rennleiter Lelan Dains die Strecke als "Tod durch tausend Schnitte".
Kansas liegt nicht viel über dem Meeresspiegel, und es werden Stürme für das Rennen prognostiziert. Lachlan Morton ist noch nie ein Rennen über eine so lange Distanz gefahren, zudem noch nie auf Schotter.
Aber seit 2013 ist er mit seinem Bruder Gus auf langen, nicht unterstützten Touren unterwegs gewesen; 2015 wurde sie Zweite beim "Thereabouts Colorado", worüber ein Film entstand. Seitdem ist Lachlan zum Aushängeschild für Profis geworden, die es etwas anders angehen...
Alex Howes ist kürzlich mit seiner neuen Frau
Jessica aus Boulder in ein Haus auf 8200 Fuß Höhe umgezogen. Der Traum eines Radfahrers, mit einer Garage voller Fahrräder - und spektakulären Routen, die in alle Richtungen befahren werden können. Howes wurde in Colorado geboren und ist dort aufgewachsen. In der Garage hängt eine Auswahl von Äxten neben seinen Fahrrädern. Er hat ein Fernglas in der Tasche, mit dem er auf Rad-Touren wilde Tiere beobachten kann, darunter Bären, Berglöwen und Elche.
Jessica und Alex sahen einen Elch am Vortag - in ihrer Einfahrt. Jessica erklärt, wie man am besten entkommt, wenn sie angreifen: "Sie sind schnell, aber sie können sich nicht drehen..."
Taylors Phinneys zweite Heimat ist in Boulder;
er betrachtet Girona, Spanien, als sein eigentliches Zuhause - genau das, was man von einem Mann wie ihm erwartet. Hell und voller Kunstwerke ist Taylors Haus, Charlie Parker spielt leise im Hintergrund, während er Kaffee anbietet. Auch Taylor gibt zu, dass er keine Ahnung hat, was ihn erwartet - aber er ist aufgeregt, was auf ihn zukommt.
Wenn die EF-Fahrer in den Tagen vor dem Rennen nervös sind, zeigen sie es nicht... Lachlan kommt am Morgen des Rennens mit einem strahlenden Lächeln zum Start, auch Taylor ist in ähnlich guter Stimmung. Alex hat eine lockere, aber geschäftige Miene: einen Cowboy mit juckendem Abzugsfinger.
Die Kanza-Ausgabe 2019 hat das stärkste Feld,
das das Rennen je gesehen hat. Ted King ist de facto der König von Kanza, mit seinen Siegen 2018 und 2016. Colin Strickland ist für seine Siege bei der Fixie-Renn-Serie Red Hook Crit bekannt, aber er ist auch zweimaliger Champion beim benachbarten Schotter-Rennen "Nebraska Gravel Worlds". Peter Stetina von Trek-Segafredo, der kürzlich ein belgisches Frühjahrs-Rennen gewann, und sein Kollege Kiel Reijnen sind da - n erstklassiger Feuerkraft mangelt es also nicht.
Als am Samstagmorgen kurz vor sechs Uhr morgens die Fahrer zum Start rollen, tragen sie alle ein Lächeln, unterhalten sich und stecken Essen für die nächsten Kilometer ein. Die Ernsthaftigkeit ähnlicher Straßen-Events fehlt gänzlich, stattdessen ist es fast wie ein Karneval, der von der Party-Atmosphäre der vorangegangenen Tage im Kanza-Dorf getragen wird.
Renngründer Jim Cummins gibt den baldigen Start bekannt.
Die Luft summt von Drohnen, die Videos aufnehmen, und die Fahrer strotzen vor erwartungsvoller Begeisterung, trotz des prognostizierten Regens. Dann ist die Sonne aufgegangen, und Hunderte Kilometer Schotter liegen auf der Lauer.
Auf den letzten fünfzig Kilometern sind Lachlan und Alex mit mehr als zehn Minuten Vorsprung vor Colin Strickland vorne; die beiden haben wirklich alles durchgemacht: ein kniffliger Kurs, ständige Konzentration, sengende Sonne, Salz und Schmutz auf den Kleidern, keine Unterstützung - abgesehen von zwei Stationen, die stundenlang voneinander entfernt sind.
Aber als sie Seite an Seite das Ziel erreichen,
ist das Lächeln wieder da; auf den letzten 500 Metern schwelgen sie im Moment. Es ist schließlich schon etwas Besonderes, wenn man gemeinsam in zehn Stunden, 18 Minuten und 36 Sekunden die Ziellinie überquert, knapp 20 Minuten hinter dem Sieger Colin Strickland.
Colin Stricklands Sieg ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Er ist der erste, der das Kanza in weniger als zehn Stunden auf der 200-Meilen-Strecke fährt, der einzige Fahrer mit einem Schnitt von mehr als 20 Meilen pro Stunde. Colin ist ein Profi zu seinen eigenen Bedingungen, mit einem unabhängigen Rennprogramm, von Schotter bis hin zu Fixie-Crits.
Taylors Tag war eher ein Fegefeuer, mit nicht weniger
als neun Reifenpannen. Mit fast 90 kg Körpergewicht sind die steinigen Wege beim Kanza für ihn ein größer Feind. Er fuhr die meiste Zeit mit TJ Eisenhart, einem amerikanischen Landsmann, den Taylor als kleinen Bruder ansieht. Zusammen kämpften sie gegen platte Reifen und andere Widrigkeiten - und Taylor ist nicht zufrieden, auch wenn sich seine Beine im Ziel gut anfühlten.
Ob Rennen wie das Dirty Kanza eine neue Ära im Radrennsports bedeuten, ist sicher umstritten. Aber es gibt nicht viele Rennen, bei denen jeder die Chance haben, mit den Besten der Welt mitzuspielen. Stellen Sie sich vor, Sie laufen mit LeBron James im Staples Center zum Körbewerfen auf, oder mit Lionel Messi zum Elfmeterschießen im Camp Nou. Das passiert so bald wohl nicht. Aber es passiert ähnliches in Emporia, Kansas...
Stuart Downie ist Mitarbeiter von Rapha United States.