Tour total / Tag 3

Ob der Streckenplaner besoffen war?

Von Marco Ruhl

20.07.2008  |  Tja, vorgestern hieß es noch, alles ist bestens bei Tour total, und wir beschlossen, Guido und uns allen ein wenig Ruhe mehr zu gönnen - und nun kommt der Eintrag für gestern, 19. Juli,erst am 20.Juli., denn gestern war der Wurm drin. Na ja, das Würmchen, aber dennoch fiel der Eintrag allerlei kleinen und nicht so kleinen Wehwehchen zum Opfer - und der Müdigkeit des Bloggers. Aber der Reihe nach.

Auf die 6. Etappe, Aigurande - Super-Besse über 195 km, ging Guido wegen der zusätzlich spendierten Ruhe erst um 03.30 Uhr. Auf den abgelegenen Straßen im östlichen Limousin kam er aber stundenlang nicht so richtig in Tritt. Woran es lag, wusste er selbst nicht; die Müdigkeit war größer, als sie nach dem zusätzlichen Schlaf hätte sein dürfen. Zum x-ten Mal fragten wir uns auch, warum der Tour-Tross eigentlich immer mal wieder eine Drittel- oder halbe Etappe lang über schmale Feldwege geschickt wird? Daran, dass ein handelsübliches Navigationsgerät immer mal wieder den falschen Feldweg aussucht, haben wir uns gewöhnt.

Die GPS-Fahrradcomputer von Garmin tun zwar zuverlässig ihren Dienst, aber wenn sich auf Straßen dritten und vierten Ranges Auto- und Radnavi laufend uneinig sind, offenbar bei beiden das Kartenmaterial unterschiedlich alt ist, dann heißt es leider immer mal wieder: Kehrt marsch, es war doch erst der nächste Feldweg links. Gut weder für die Motivation noch den Tretrhythmus.

Die Etappe selbst machte es Guido auch nicht gerade leichter. Denn noch bevor es zu den ersten beiden großen Bergen der Tour ging - Croix-Morand und Super-Besse -, kämpfte sich die Marschtabelle langsam aber beständig und mit allerlei Berg-und-Tal von etwa 400 m auf knapp 1000 m und sammelte ca. 1600 hm. Zu Müdigkeit und Profil kam ein missmutiger Umwerfer, der x-mal nachjustiert werden musste.

Alles in allem zog sich deshalb die Etappe durch eine touristisch wenig bekannte, für Erholungsurlaub aber ideale Gegend Frankreichs ziemlich zäh dahin. Mit der gleichen Zähigkeit biss sich Guido aber durch, und als er in la Bourboule dann den ersten Cat. 2-Pass der Tour in Angriff nahm, hatten wir zwar deutlich länger als ursprünglich geplant gebraucht, aber die Dinge renkten sich wieder ein.

Der Col de la Croix-Morand ist ein richtiger Rollerberg, und da das genau das Terrain ist, das Guido entgegenkommt, war er sehr gut für die Psyche, denn Guido schnurrte hinauf wie ein Uhrwerk (allerdings ging die Uhr vor, so flott radelte er). Außerdem wurde im Anstieg die 1000 km-Marke geknackt, so dass die Welt wieder in Ordnung kam, denn trotz der verlorenen Zeit waren wir der neu durchgerechneten Marschtabelle noch voraus.

In Super-Besse forderte Guidos Ausdauer dann die ersten Opfer. Da hatte er die beiden Akkus der Fotokamera im Begleitfahrzeug überlebt, und das Wohnmobil mit den Wechselakkus war schon in Brioude, so dass die Ankunft im Sancy-Massiv bildlich undokumentiert bleibt. Immerhin können wir aber sagen, dass wir unseren Super-Besse-Sieger nicht nachträglich aus den Listen streichen werden müssen.

Dann kam aber die Welt auf der 7. Etappe doch wieder aus der Ordnung. Eigentlich nur ein „kurzer” Happen von 159 km ab Brioude mit dem „Doppelanstieg” Col d'Entremont und Puy Mary zum Abschluss mit direkter Abfahrt zum Ziel nach Aurillac, entwickelte sich das Ding zum quälendsten bisher überhaupt.

Schon die Marschtabelle kennt auf großen Teilen der Strecke gar keine Orte; fast die Hälfte der Wegpunkte sind Kreuzung von D-x mit D-y. Gerade anfangs der Etappe wird man auf ein Hochplateau bei rd. 1000 m im östlichen Cantal geschickt und kommt auf den ersten gut 50 km bis nach Saint-Flour durch zwei Orte und an vielleicht einem halben Dutzend Einzelgehöften vorbei. Das war's. Kein Baum, kein Strauch, nur Gegenwind. Guido pfiff der Wind so beständig und so kräftig ins Gesicht, dass wir schließlich Windschatten beschlossen und er hinter dem Begleitfahrzeug fuhr.

Hinter Saint-Flour ging es vergleichbar weiter, und auch wenn der Wind von Taleinschnitt zu Taleinschnitt wechselte und mitunter auch kräftig von hinten wehte, zährten die dauernden Feldwege so langsam an der Moral. Die Strecke umkreiste andauernd die eigentlichen Verbindungsstraßen zwischen den Orten, so verworren, wieder mit so sehr auf 'Kreuzung D-x D-y' beschränkten Wegpunkten, dass wir uns fragten, ob der Streckenplaner besoffen war oder die Strecke bei der Inspektion seiner Getreidesaat festgelegt hatte. Dass die Gegend dünn besiedelt ist, ist eines. Dass die Strecke das Feld - und uns - um die wenigen Orte beständig herumleitet und erst gegen Ende des Abschnitts, kurz vor Murat, am Fuße des Col d'Entremont wieder durch Orte führt, etwas anderes. Fast fühlt man sich, als sei man mit einem Bann belegt und dürfe sich der Zivilisation nur bis auf ein paar Kilometer näher.

Nur einer war von dem allen unbeeindruckt, wenn auch sichtlich unzufrieden mit dem Zeitverlust durch Wind, rauen Teer, abstruse und manchmal kaum auffindbare Streckenführung: Guido, der sein Programm runterspulte, als sei nichts. Immerhin ließ abends der Wind nach, der sonst am Col d'Entremont vermutlich wieder direkt von vorn gekommen wäre. Versöhnlicher Abschluss, inzwischen bei nahezu Windstille, war das grandiose Panorama der Vulkanlandschaft am Puy Mary in der Abendsonne. Kommentar von Guido auf der Passhöhe des Pas de Peyrol: „Schön hier, aber man muss schon ganz schön treten, um hier rauf zu kommen. Und wo ist jetzt das Ziel?”

In der Zeit, wo sonst unterwegs die Tagebucheinträge entstehen, war diesmal aber auch noch mehrfach Guidos Kurbellager dran, und als der Chronist dann endlich mal angefangen hatte zu tippen, schickte eine Fehlfunktion des Spannungswandlers im Auto das Bisherige mitsamt dem Betriebssystem ins Nirwana.

Ab Puy Mary fehlte dann die Zeit: rasante Abfahrt nach Aurillac, Einräumen von Rad und Radler, Transfer zum Startort der nächsten Etappe, Figeac, und Vorbereitung derselben. Und dann forderte Guidos Ausdauer das nächste Opfer: Kurznickerchen im Begleitfahrzeug reichten nicht mehr. Ich beantragte eine Auszeit, sie wurde gewährt, ich schlief mal 4 Stunden am Stück... und Guido, berichtete man mir heute morgen, ging nach einer Stunde „Ausruhen” an den Start der Etappe Figeac - Toulouse. Ich werde mal hören, was so passiert ist, und heute abend berichten.

Am 17. Juli startete Guido Kunze seine „Tour total“. Der 42-jährige Extremsportler will die komplette Strecke der 95. Tour de France abfahren und am 27. Juli, kurz vor dem Tour-Tross, in Paris auf den Champs-Elysées eintreffen. Kunze hat sich ein gewaltiges Programm vorgenommen. Weil er nur zehn Tage Zeit hat, muss der Extremsportler pro 24 Stunden umgerechnet etwa 2,2 Etappen bewältigen. In einem Tagebuch berichtet Marco Ruhl, einer von Kunzes Begleiter, von dessen Erlebnissen in Frankreich.

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