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12.06.2012 | Vor einem Jahr nahm der Bielefelder Verleger Rainer Sprehe sein Querfeldein-Rennrad, hängte Packtaschen dran, und versuchte, die Friedensfahrt, die „Tour de France des Ostens“ auf seine Weise zu reanimieren. Mit einem Solo-Trip auf der Original-Route der ersten Friedensfahrt 1952. Der erste Teil der Strecke führte ihn auf den Spuren von Täve Schur & Co. quer durch Polen: Sechs Tage im Lande des Fußball-EM-Gastgebers, in denen er sich Sprehe laut eigener Aussage nicht selten wie ein Außerirdischer vorkam...
Seit dreieinhalb Tagen rolle ich durch Polen. Doch abseits der Städte bin ich bisher nicht mal einem halben Dutzend anderer Radfahrer begegnet. Gestern zwei drahtige Muster-Athleten in den unbefleckt weißen Jerseys eines Rennstalls, der bis 2009 in seltsam trauter Union von einer Vatikan-nahen Anti-Abtreibungs-Organisation und Mc Donald‘s gesponsert wurde. Heute Morgen drei gebeugte Omis, die auf quietschenden Rostlauben von der Frühmesse nach Hause strampelten, und meine Radfahrer-Grüße nur mit schwer oxidiertem Klingeln quittierten.
Ganz offensichtlich gehört ein erwachsener Mann, der in Strumpfhosen auf einem schwer beladenen Rennrad hockt, nicht zu den alltäglichen Anblicken in Polen. An staunende Münder, skeptische Blicke und indignierte Augenaufschläge habe ich mich bald gewöhnt. Doch heute, am 1. Mai, nimmt das Glotzen überhand. Auch inmitten des größten polnischen Ballungsraums sind an diesem Sonntag vom Fahrrad aus nur wenige Menschen zu sehen.
Augenscheinliche Ausnahmen sind die Ansammlungen, die vor und in den Portalen prächtig gefüllter Gotteshäuser stehen, und von dort einen Blick auf die Feierlichkeiten zur Seligsprechung von Johannes Paul II. erhaschen wollen. Der große Andrang macht mich neugierig. Ein schwerer Junge, auch durch seine aktuelle GPS-Position als Türsteher prädestiniert, erschreckt sich bei meinem Anblick derart, dass er seinen Nebenmann anstößt, der daraufhin losprustet und mir unter Darbietung seines kompletten, ultimativ vergoldeten Gebisses den direkten Weg zum Weihwasserbecken weist.
Doch verpflichtenden Reinigungsakten stehe ich eher skeptisch gegenüber. So trolle ich mich lieber, und überlasse die Gemeinde ungestört ihrer telepathischen Zwiesprache mit dem angehenden Seligen.
Das Oberschlesische Industriegebiet
Ich passiere Lindwürmer rußgeschwärzter Fassaden. Gleich ganze Quartiere scheinen von Instandsetzung seit Jahrzehnten unbehelligt. Das darniederliegende Maler- und Lackierer-Wesen ruht vielerorts weitgehend in den Händen der diversen Crews und Armys, Firms und Mobs, die im polnischen „Pott“ zu Gange sind.
Wenn eine Hauswand in den letzten Jahren mal ein wenig Farbe spendiert bekommen hat, dann ist es Sprühfarbe aus der Dose, mit der selbsternannte Freunde der dritten Halbzeit in großen Lettern ihre Reviermarken auf den Putz hauten: „Ruch“, „Górnik“, „GKS“, „Polonia Bytom“ – gern auch, um letzte Missverständnisse auszuräumen, mit dem Appendix „Hools“ geschmückt. Und hat ausnahmsweise mal ein anderer Graffiti-Künstler seine Handschrift hinterlassen, klingt dies nicht wesentlich einladender: Hinter www.defuckto.pl verbirgt sich vermutlich keine Hauspuschen-Manufaktur.
Ankunft in Ruda Śląska. Ein Straßenpflaster, das sich bestenfalls als pockennarbig bezeichnen lässt, und zudem reihenweise Radfahrer-Fallen bereithält. Dann die Abfahrt über Rumpelpflaster, das aussieht, als hätte man Kantsteine einfach während der Fahrt von einem Baulaster gekippt. Als pikante Note immer wieder schmierseifenglatte, in spitzem Winkel zur Fahrtrichtung verlaufende Straßenbahnschienen - geradezu prädestiniert, ein eben noch fröhliches Friedensfahrt-Peloton im Nu in eine hinkende Legion von Kriegsversehrten zu verwandeln.
In Zabrze wird es noch heikler, nun schwindet merklich meine Konzentration. Über mehrere Kilometer bleibt mir buchstäblich die Luft weg. Wohin ich Nase und Mund auch wende, es stinkt erbärmlichst nach verbranntem Gummi und geronnener Schwefelsäure. Der gefühlte Sauerstoffgehalt der Atemluft sinkt weit unter die Grenzwerte für Apnoe-Taucher. Fast scheint es, als trüge ich eine Atemschutzmaske, die nur leider den Nachteil hat, dass sie direkt an den prustenden Auspuff eines Jelcz-Behelfsbusses der 1954er Baureihe angeschlossen ist.
Der besondere Reiz des Radfahrens, das Erlebnis, den durchquerten Raum buchstäblich mit allen Sinnen zu erfahren, einen Landstrich oder eine Stadt also nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, zu spüren, zu schmecken, zu riechen und penibel auszumessen: Hier wendet er sich massiv gegen mich.
Inzwischen hat sich Opole als Tagesziel herauskristallisiert. Das bedeutet, dass ich mich heute erstmals nahe an die 200-Kilometer-Marke heranwagen muss – und folglich gut beraten wäre, unterwegs noch mal meine Brennstoff- und Wasser-Reservoirs aufzutanken, bevor unhübsche Phänomene mit griechischstämmigen Namen ihre mit K.O.-Tropfen bewaffneten Finger nach mir ausstrecken können.
Keinen Fußbreit der Dehydrierung
Hyperglykämie? Nie!
Dafür ein Lob der Institution „Sklep“, die es Polen dankenswerterweise in jeder noch so kleinen Ansiedlung gibt. Auch Feiertags-Nachmittags stehen die doppelt und dreifach einbruchgesicherten Türen der kleinen Ladenlokale offen, und eine eifrige Kittelträgerin und ihr für die Gelüste von Radfahrern trefflich zusammengestelltes Sortiment sind zu Diensten. Und das zu Konditionen, die den alternativ denkbaren Besuch eines Tankstellen-Shops zum Akt der Dekadenz stempeln.
Die Bedienung ist von ausnehmender Galanz. Doch auch sie begutachtet mich mit einem Augenaufschlag, der mehr als skeptisch die Tassen im Schrank des Gegenübers zu zählen scheint. Die gute Frau kramt und grient, tütet ein und grient, kritzelt Zahlen auf einen Notizblock und grient, kassiert und grient, gibt Wechselgeld heraus und grient, und zu Beginn und am Ende all dieser Verrichtungen tippt sie sich unter halb verschlucktem Gelächter an den Kopf. Und grient.
Das Finale
Ein Blick auf den Tacho, und dann „Hirnstecker raus“, wie das im Radsportjargon heißt. Noch mal das Weiße aus den Augen fahren, nur um den Schnitt noch um zwei Nachkomma-Stellen nach oben zu korrigieren.
16 Uhr 55. Die Türme von Opole am Horizont. Drei Prostituierte auf einem Parkplatz am Rande der Staatsstraße 94 werden, noch eine Sprintdistanz entfernt, kopfschüttelnde Zeuginnen, wie ich die „28,0“ auf dem Display standesgemäß begrüße.
Die Hände vom Lenker, den Reißverschluss des Trikots geschlossen, eine Faust geballt, ein Finger zeigt in den Himmel, ein allzu plötzlich auftauchendes Schlagloch lässt das Herz in die sattsam gepolsterte Hose rutschen. Ich meinerseits werde Zeuge, wie ein älterer, sehr viel älterer Herr mit einem Polski Fiat Maluch vorfährt, und zwei der knapp bekleideten Damen mit ebenso spärlichen Gesten auffordert, sich und ihre langen Beine irgendwie auf die Rückbank zu zwängen.
17 Uhr. Der kleine Fiat hat an einer Tankstelle angehalten. Eine der Damen steigt aus. Über ihre Berufskleidung hat sie mittlerweile etwas Züchtigeres gestreift. Der vermeintliche Freier hat das Fenster heruntergekurbelt und pfeift einen burschikos drauflos marschierenden Operetten-Hit mit. Ich lächle ihn an, mit einem fast entschuldigenden Nicken. Es wird wohl nur der fürsorgliche Großvater sein, der seine beiden Lieblings-Enkelinnen von der Arbeit abgeholt hat, und ihnen jetzt eine Feierabend-Fanta spendiert. Zurückzulächeln ist seine Sache nicht. Er steht eher auf Pantomime, und lässt Hände sprechen. Erst vollführen sie übereifrige Kurbelbewegungen, dann tupfen sie theatralisch die Stirn.
17 Uhr 10. Opole ist tatsächlich erreicht. Die Oder. Der Zielstrich. Der Hirnstecker darf wieder rein. Endlich. Die Dame im Stewardessen-Kostüm geht ihrer Arbeit an der Rezeption mit penibler Professionalität nach. Ein skeptisches oder gar entsetztes Anglotzen bleibt dem neuen Gast also ausnahmsweise erspart. So etwas wird angehenden Hotelfachwirtinnen schon im ersten Lehrjahr unter Androhung von vier Wochen Urinstein-Abklopfdienst ausgetrieben.
Nur die Akribie, mit der das Studium meines Personalausweises und das Ausfüllen der polizeilichen Meldeunterlagen betrieben werden, liefert einen Hinweis, dass womöglich auch hinter diesem Tresen bei meinem Anblick diverse Alarmglocken schrillen. Eine junge Frau im naturnah produzierten Langhaarpelz und in Begleitung zweier draller, sabbernder, völlig identischer Kurzhaarhunde huscht nach mir in den Lift.
Irgendetwas an der Art des „dziękuję“, mit dem ich mich von der Rezeption verabschiedet habe, hat sie die richtigen Rückschlüsse auf meine Herkunft ziehen lassen. „Entschuldigen, Herr, Sie haben was, da“, sagt sie in unerwartet vertrauter Mundart, um ihre Worte dann mit einer nicht minder vertrauten Geste zu untermalen. Zum wiederholten Male an diesem Tag zeigt man mir den Vogel.
Das Interieur des Fahrstuhls ist mit Spiegelglas verkleidet. Und tatsächlich habe ich da was. Siedend heiß fällt es mir ein. Nach der mittäglichen Kettenpflege an der EM-Stadion-Baustelle in Chorzów hatte ich meinen pechschwarzen Fingern, aber auch nur diesen, die Reinigungs-Wunderwaffe Babyfeuchttuch angedeihen lassen. Allerdings ohne zu registrieren, dass ich mir just zuvor einmal mit der Hand durchs Gesicht gefahren war.
Es ist eine veritable Kriegsbemalung, mit der ich Etappe 4b meiner Friedensfahrt bestritten habe. Die rechte Wange ist durch Rouge Noir aus dem Gothic-Schminkkasten verunstaltet, die komplette untere Stirnhälfte quert ein fetter schwarzer Balken, der aussieht wie die Augenbrauen von Bert aus der Sesamstraße. Alle meine Brauen, die echten aus Borsten wie die falschen aus Schmierstoff, zucken ruckartig in die Höh’. Zwei Pupillen zittern wie Geigerzähler. Zur Hülfe, Matka Boska, ist ja grau-en-haft!
Ich möchte im Boden versinken, doch der Lift fährt nach oben. „Mon dieu, was ist das denn für ein Freak?!?“, denken die Kläffer, die an meinen Radschuhen schnüffeln. „Och, Gottchen, der Ärmste …!“, denkt die Prinzessin und zaubert aus ihrem Pelzmantel ein Babyfeuchttuch hervor. „Immer dabei … für Fall, einer macht Pipi auf Parkett.“
Wer sich für den weiteren Verlauf von Rainer Sprehes Friedensfahrt interessiert, dem sei seine Reiseerzählung auf den Spuren der ersten "Internationalen Friedensfahrt" empfohlen, die vor 60 Jahren auf der Route Warschau–Berlin–Prag auch über deutschen Boden rollte. Sie ist unter dem Titel „Alles Rower? Ein Wessi auf Friedensfahrt“ im Covadonga Verlag erschienen. (383 Seiten; ISBN 978-3-936973-70-9; 16,80 Euro.)
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