RSNplusGiro-Sieger von 2017 in der Sinnkrise

Leere Beine, leerer Kopf: Quo vadis, Tom Dumoulin?

Von Felix Mattis

Foto zu dem Text "Leere Beine, leerer Kopf: Quo vadis, Tom Dumoulin?"
Tom Dumoulin (Jumbo - Visma) vor dem Start der 4. Etappe des Giro d´Italia 2022. | Foto: Cor Vos

11.05.2022  |  (rsn) – Mit leeren Beinen und leerem Kopf stand Tom Dumoulin am Dienstagnachmittag am Ätna im Ziel der 4. Giro-Etappe. Als ihm das Eurosport-Mikrofon unter die Nase gehalten wurde, wusste der 31-Jährige kaum etwas zu sagen. Tief enttäuscht stand Dumoulin vor der Kamera und wirkte völlig ratlos und sogar tief unglücklich.

"Ich fühle mich einfach nicht gut. So ist es. Ich habe hart gearbeitet, um in bestmöglicher Form hierher zu kommen… Ja…", sagte er. Und auf die Nachfrage, ob es ihm schon am Vormittag nicht gut gegangen sei, schüttelte Dumoulin den Kopf. "Es ist eigentlich alles okay. Ich habe nur einfach nicht die Beine im Moment. Ich weiß nicht warum… Ich weiß es nicht. Aber es ist wie es ist."

___STEADY_PAYWALL___ 9:10 Minuten nach Etappensieger Lennard Kämna (Bora – hansgrohe) und 6:33 Minuten nach der großen Gruppe der Klassementfahrer war der Giro-Sieger von 2017 am Rifugio Sapienza an den Südhängen des Vulkans angekommen. Schon zehn Kilometer vor dem Zielstrich hatte er die Mitfavoriten ziehen lassen müssen.

Einsam und allein: Dumoulin auf dem Weg hinauf zum Ätna. | Foto: Cor Vos

"Mein Körper reagiert nicht mehr so, wie ich das will. Meine Beine laufen leer und ich habe nicht mehr die Power, die ich vor einigen Jahren hatte. Ich kann auch nicht sagen, woran das liegt", suchte Dumoulin im niederländischen TV-Interview dann noch nach einer Erklärung und gestand, was man seinen Gesichtszügen ohnehin ansah: "Das waren keine schönen letzten Kilometer."

Einbruch am Ätna war vorhersehbar

Am schlimmsten dürfte für den Maastrichter gewesen sein, dass er quasi sehenden Auges ins Messer gelaufen war. Denn dass Dumoulin am Berg nicht zu den Besten gehören würde, das war vor dem Giro-Start fast schon abzusehen gewesen. Und auch seine Einschätzung des Einzelzeitfahr-Ergebnisses am Samstag deutete bereits darauf hin, dass Dumoulin gar nicht damit rechnete, wirklich zu den Gesamtsieg-Kandidaten zu gehören.

Im Zeitfahren noch immer absolute Weltspitze: Dumoulin im Kampf gegen die Uhr in Budapest am Samstag. | Foto: Cor Vos

In Budapest nämlich wurde er Etappendritter und verlor von den Klassementfahrern nur gegen Tagessieger Simon Yates (BikeExchange – Jayco) Zeit. Für einen Mann mit Gesamtwertungs-Ambitionen hätte das ein zufriedenstellendes Ergebnis sein dürfen: fast allen Zeit abgenommen! Trotzdem war Dumoulin schon dort unzufrieden – ganz offensichtlich, weil er die Etappe gewinnen wollte, um wenigstens in seiner Spezialdisziplin einen Sieg einzufahren bei dieser Italien-Rundfahrt.

Als Dumoulin nun am Ätna abreißen ließ, machte keiner seiner Teamkollegen auch nur für einen kurzen Moment Anstalten, auf ihn zu warten. Der Niederländer hatte wohl schon angekündigt, dass das passieren könnte. Jumbo – Visma kämpfte nicht darum, den Co-Kapitän möglichst wenig Zeit verlieren zu lassen, sondern gab seine Klassementhoffnungen in diesem Moment sofort auf – wenn das nicht schon vorher geschehen war. Sam Oomen und Koen Bouwman blieben jedenfalls beim  Vorjahresneunten Tobias Foss.

Jumbo – Visma erlebt einen schwarzen Tag

Doch auch der Norweger schwächelte, ließ nicht lange nach Dumoulin abreißen und büßte ebenso wie Oomen 2:15 Minuten auf die Favoritengruppe ein. Bouwman half dem Duo zunächst und fiel danach weiter zurück.

"Zwei Minuten zu verlieren ist nie ein gutes Zeichen", sagte Jumbo – Vismas Sportlicher Leiter Marc Reef. Da konnte auch der sechste Rang von Gijs Leemreize aus der Ausreißergruppeheraus kaum trösten. "Wir sind mit Ambitionen für die Gesamtwertung hergekommen. Deshalb ist es schade, wenn die Jungs acht Kilometer vor dem Ende abreißen lassen müssen. Davon müssen wir uns erholen und werden jetzt sehen, wie sich Tobias', Sams und Toms Form entwickelt."

Auf Etappenjagd kann Jumbo - Visma sicher noch gehen, im Gesamtklassement droht dieser Giro aber die schlechteste Grand Tour seit der Tour de France 2017 zu werden. Das war das bisher letzte Mal, dass keiner der Männer in Gelb-Schwarz in den Top 10 die drei Wochen beendete – abgesehen vom Giro 2020, als das komplette Team wegen der Corona-Infektion von Steven Kruijswijk aussteigen musste.

Etappenjagd als Alternative: Kann Dumoulin den Schalter umlegen?

Doch zurück zu Dumoulin: Ob der Limburger bei diesem Giro noch auf die Jagd nach einem Etappensieg gehen wird, durfte man sich am Dienstagabend fragen. Wahrscheinlicher schien da, dass Dumoulin die Italien-Rundfahrt bald verlassen wird. Der Frust und die Enttäuschung darüber, dass er am Ätna tatsächlich mit der Realität konfrontiert wurde, die sich in den vergangenen Monaten wiederholt angedeutet hatte, saß so tief, dass man tiefgreifendere Fragen ob der Zukunft des ehemaligen Zeitfahrweltmeisters stellen muss.

Den Dumoulin, der 2017 den Giro gewann und 2018 sowohl den Giro als auch die Tour als Gesamtzweiter beendete, gibt es seit seinem Sturz auf der 4. Etappe der Italien-Rundfahrt 2019 auf dem Weg nach Frascati offensichtlich nicht mehr. Die dort erlittenen Verletzungen kosteten ihn den Rest der damaligen Saison, die lange Zwangspause sorgte für einen Bruch in seiner Karriere.

Das Ende des großen Rundfahrers Tom Dumoulin? Beim Giro 2019 stürzte er im Regen auf dem Weg nach Frascati schwer. | Foto: Cor Vos

Klar: Dumoulin wurde 2020 als Edelhelfer für Primoz Roglic nochmal Gesamtsiebter der Tour de France, doch auch damals war schon früh in den Pyrenäen klar: Mit den Besten kann der Niederländer nicht mehr mitklettern. Dass er sich trotzdem durchbiss, für Roglic arbeitete, am Ende ein bärenstarkes Zeitfahren an der Planche des Belles Filles hinlegte und die Tour auf Rang sieben beendete, bewies die riesige Klasse als Rennfahrer, die Dumoulin zweifelsfrei weiterhin hat. Doch die Idee von Zielsetzungen wie Grand Tour-Gesamtsieg oder -Podium hielt dieser Eindruck wohl eben nur künstlich am Leben.

Glaube an Grand-Tour-Ziele seit 2019 ohne Fundament

Nach seinem halben Sabbatical 2021 setzte er sich deshalb für 2022 nochmal das Ziel Giro-Gesamtwertung. "Ich finde das immer noch sehr herausfordernd und weiß, dass ich da sehr gut sein kann", sagte Dumoulin im November. Sehr gut, ja – so gut, dass es für den Kampf um ein Podium reicht? Leider wohl eher nicht mehr.

Ein Traum in Rosa: Tom Dumoulin bejubelt mit seinen Sunweb-Teamkollegen um Simon Geschke (2. von rechts) seinen Giro-Sieg 2017. | Foto: Cor Vos

Und das wurde eigentlich seit seiner Rückkehr im Juni 2021 immer wieder deutlich: Dumoulin ist weiterhin ein großartiger Rennfahrer für bestimmte Rennen und konnte auch bei schweren Streckenprofilen immer wieder glänzen, vor allem in Einzelzeitfahren. Er wurde bei seinem Comeback bei der Tour de Suisse Fünfter im schweren Zeitfahren von Andermatt, spielte auf den Bergetappen aber keine Rolle. Und er gewann Olympia-Silber in seiner Parade-Disziplin. 2022 begann mit einem starken dritten Platz im Zeitfahren der UAE Tour, doch bei den zwei Bergankünften am Jebel Jais und am Jebel Hafeet war Dumoulin chancenlos.

Kann Dumoulin den Schalter im Kopf umlegen?

Die Katalonien-Rundfahrt verließ er am dritten Tag im Formtief. Dann machten ordentliche Leistungen bei seinen Heimrennen Volta Limburg Classic und Amstel Gold Race im April Hoffnung, doch es war eine trügerische: Dumoulin glaubte weiter oder wieder an die Gesamtwertungs-Chancen, und das, obwohl er seit zwei bis drei Jahren keinen einen einzigen Beweis im Wettkampf geliefert hatte, dass dieses Ziel realistisch war.

Es stellt sich daher nun nach dem Ätna die Frage, ob Dumoulin noch den Kampfgeist und den Willen in sich hat, ein weiteres Mal zu versuchen, wieder dort hinzukommen, wo er 2017 und 2018 war. Oder ob er den Schalter im Kopf umlegt und sich auf seine anderen riesigen Fähigkeiten konzentriert. Denn ein großartiger Rennfahrer ist er zweifelsfrei weiterhin. Schön wäre, wenn der sympathische Dumoulin auch wieder ein glücklicher großartiger Rennfahrer würde.

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