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11.10.2022 | (rsn) – Die ersten Weltmeisterschaften im Gravel Racing am vergangenen Wochenende in Venetien waren – zumindest bei den Männern – eine Angelegenheit für die großen Straßen-Asse. Die Top Ten im Endergebnis des Eliterennens standen allesamt auf den Gehaltslisten großer WorldTour-Rennställe oder sind zumindest, wie Weltmeister Gianni Vermeersch und Superstar Mathieu van der Poel, für ProTeams wie Alpecin – Deceuninck unterwegs.
Echte Gravel-Spezialisten gingen bei dem intensiven, 190 Kilometer langen Rennen dagegen unter. Der Niederländer Piotr Havik wurde mit 3:18 Minuten Rückstand auf Weltmeister Vermeersch Zwölfter, Julien Trarieux (+ 5:04) aus Frankreich kam auf Rang 15 und der Australier Nathan Haas (+ 6:23) auf den 16. Platz – die drei Besten unter denen, die 2022 keine volle Straßensaison in einem Profi-Straßenteam bestritten, sondern sich aufs Gravel Racing spezialisiert und mehr oder weniger allein durchs Jahr geschlagen haben.
___STEADY_PAYWALL___Gerade aus ihrer Sicht warf sich daher die Frage auf: Wohin will der Radsportweltverband UCI mit seiner neuen Disziplin? Denn mit dem Parcours in Italien traf ausgerechnet die erste Gravel-WM nicht den Ton, den man aus der Gravel-Szene sonst gewohnt ist.
Voß nahm "WM die Illusion,als Gravel-Pro Gravel-Weltmeister zu werden"
Die physiologischen Anforderungen waren angesichts vieler enger Kurven und unzähliger neuer Beschleunigungen in einem 5-Stunden-Rennen eher einem Frühjahrsklassiker auf der Straße ähnlich als dem vor allem in den USA groß gewordenen Gravel-Sport mit eher gleichmäßigeren Belastungen auf endlos geraden Schotterstraßen durch die Vereinigten Staaten.
Die Goldmedaille gewann der für Alpecin – Deceuninck fahrende Belgier Gianni Vermeersch.| Foto: Cor Vos
Das erklärte auch der beste Deutsche, Paul Voß, gegenüber radsport-news.com. Er kam als 27. mit 8:13 Minuten Rückstand auf Weltmeister Vermeersch ins Ziel. Unter den echten Gravel-Spezialisten wäre er in den Top Ten gelandet. "Mit der Leistung bin ich schon zufrieden, gerade weil ich zu Wochenbeginn auch flach lag. Aber grundsätzlich hat einem die WM die Illusion genommen, dass man als reiner Gravel-Pro Gravel-Weltmeister werden kann, wenn sich der Sport auf UCI-Seite so weiterentwickelt", sagte Voß.
Er müsse im Training ganz andere Reize setzen, um bei einem solchen Rennen bestehen zu können, als er es eigentlich für seine sonstigen Schotterrennen brauche. Und insgesamt, so Voß, sei die nötige Rennhärte kaum zu bekommen, wenn man nicht eine solche Straßensaison bestreitet, wie es die Straßenprofis tun.
Morton: "Es war total anders"
Voß' australischer Kollege Lachlan Morton bestätigte den Eindruck, dass das WM-Rennen nur wenig mit dem gemein hatte, was im Gravel Racing sonst passiert. "Es war sicherlich total anders. Ich denke, auf den ersten 50 Kilometern war die Strecke sehr gut, danach hätte sie besser sein können. Das Level war wirklich hoch und es war eine ganz andere Art, Rennen zu fahren", sagte er cyclingtips.com vor Ort in Venetien, betonte aber auch: "Der Rennbeginn war interessanter, als alle Rennen die ich in den Staaten je gefahren bin in Sachen Terrain, weil man immer wieder in kleine Wege eingebogen ist. Ich denke nicht, dass es eine Bedrohung für die US-Gravel-Szene ist, nur etwas anderes."
Die Frage nach einer genaueren Abgrenzung der Disziplinen Straße und Gravel bei UCI-Rennen ist allerdings keine der rein körperlichen Anforderungen, sondern auch eine mit Blick auf das Material. Dass viele Straßen-Asse die Gravel-Weltmeisterschaften schließlich sogar auf ihren Straßenrädern bestritten und lediglich etwas dickere Reifen montierten, konnte auch der Rad-Industrie und den Sponsoren nicht wirklich gefallen. Wie erklärt ein Radhersteller die Sinnhaftigkeit seines Gravel-Modells für den Leistungssport, wenn bei der Gravel-Weltmeisterschaft das Straßenrad den Vorzug erhält?
Nur noch Gravelbikes für Gravelrennen?
Auch an dieser Stelle ist die Definition des Gravel-Rennsports noch nicht scharf genug – und letztlich waren die auf sich und ihr kleines Umfeld angewiesenen Gravel-Profis im Nachteil. Denn während die von großen Profi-Teams unterstützten Straßen-Asse mit großem finanziellen und somit auch materialtechnischem Hintergrund vor Ort zwischen verschiedensten Modellen wählen konnten, mussten sich Individualisten schon daheim entscheiden, welches Rad sie mitnehmen.
Piotr Havik lag hier zwar vor Mathieu van der Poel und Greg Van Avermaet im Rennen, am Ende landeten die Beiden wie elf weitere Straßenprofis allerdings vor dem besten der Gravel-Spezialisten.| Foto: Cor Vos
"Es wäre da vielleicht wünschenswert, wenn die UCI einfach vorgeben würde: Okay, Gravelrennen bedeutet Reifen mit mindestens 38mm Breite zum Beispiel. Im Cross gibt es da ja auch Vorgaben mit maximal 33mm", suchte Voß nach einem Lösungsansatz, der die Definition der Disziplin Gravel konkretisieren und klarer von der Straße abgrenzen würde. Straßenräder mit einem Rahmen, der 38mm-Reifen zulässt, gibt es kaum. Im Cross besteht das Problem aufgrund der spezifischeren Anforderungen im Schlamm und bei niedrigeren Geschwindigkeiten kaum. Da machen Straßenräder ohnehin keinen Sinn.
Diskussionen zum Thema Wertschätzung derer, die sich über Rennen der Gravel World Series für den Titelkampf qualifizieren mussten und den Gravel-Sport über das Jahr mit viel Eigeninitiative und der Hilfe von Privatsponsoren tragen, gab es schon vor dem Rennen in Venetien. So hatten die Elitefahrer einheitliche Nationaltrikots ihres jeweiligen Landesverbands zu tragen, obwohl der Verband in die Vorbereitung und auch die Arbeit vor Ort überhaupt nicht involviert war. Gravel-Profis trugen Sponsorenlogos auf den Verbandstrikots, die eigentlich in direkter Konkurrenz mit den eigenen, persönlichen Partnern standen – ohne beim Event aber Verbandsunterstützung zu haben.
Streitpunkt Startaufstellung vor allem symbolisch wichtig
Dass die UCI in ihrer Planung der WM an die Realität der Gravel-Spezialisten kaum gedacht hatte, wurde außerdem an einem anderen Punkt deutlich: der Startaufstellung. Im Roadbook der WM hatte die UCI zunächst formuliert, dass die Startplätze im Eliterennen nach einem First-Come-First-Serve-Prinzip besetzt würden – wer am frühesten zum Start rollt, darf vorne stehen. So weit, so fair.
Dieser Plan aber wurde wenige Tage vor dem Rennen umgeworfen. Plötzlich hieß es, dass diejenigen Fahrer vorne starten dürften, die die meisten UCI-Punkte in allen Disziplinen gesammelt hätten. Gravel-Spezialisten konnten da natürlich die wenigsten aufweisen und sollten sich hinten anstellen. Bei Weltmeisterschaften im Cross oder Mountainbike-Sport, wo die Startreihenfolge ebenfalls wichtig ist, zählen nur die in der jeweiligen Disziplin erkämpften Punkte.
Paul Voß (3.v.l.) belegte als bester deutscher Fahrer mit /8:13 Minuten Rückstand auf Weltmeister Vermeersch Rang 27. | Foto: Cor Vos
Ex-Straßenprofi Nicolas Roche, der seit 2022 seinen Fokus ins Gelände verlegt hat, machte das via Twitter publik. "Ich dachte, es wäre die Gravel-WM und nicht die Straßen-WM", schrieb er und stieß so eine Diskussion an, deren Konsequenz eine erneute Umstrukturierung der Startbox mit sich brachte. Es wurde besser durchgemischt, allerdings standen weiterhin die großen Stars wie van der Poel fürs TV-Bild ganz vorne, die sich für die WM im Gegensatz zu den Gravel-Spezialisten noch nicht einmal qualifizieren mussten, sondern per Wildcard von ihren Verbänden schlicht nominiert werden konnten.
Gravel als UCI-Disziplin: Ohne genauere Abgrenzung überflüssig?
Vorne zu starten stellte insofern einen großen Vorteil dar, als dass es nach dem Start direkt in einen Anstieg und nach 1,4 Kilometern in eine einspurige Abfahrt ging. "Ich bezweifle sogar, dass Mathieu van der Poel da eine Chance hätte, wenn er als 150. starten würde. Das ist so ziemlich 'Game Over' wenn Du nicht in den ersten Reihen stehst", kritisierte mit Nathan Haas ein anderer zum Gravel-Spezialist gewordener Ex-Straßenprofi.
Letztendlich entschied der Start das Rennen nicht, doch die Herangehensweise der UCI machte deutllich, worauf in Venetien der Fokus lag: auf den großen Straßen-Assen, die die große Publicity für das Event mitbrachten.
Um aber tatsächlich eine neue Disziplin zu etablieren, die eigene Gravel World Series als Qualifikations-Events zu stärken, Gravel-Spezialisten zu fördern und auch den Vorstellungen des Gravel-Sports bei der Rad-Industrie gerecht zu werden, muss der Weltverband wohl umdenken und die Definition des Gravel Racings schärfen und klarer Abgrenzen. Ansonsten droht die Gravel-WM und somit das Graveln unter UCI-Flagge auf längere Sicht einfach nur zu einem Nebenschauplatz für Straßen-Profis am Saisonende zu werden, während die wahre Gravel-Szene wieder ihre eigene Suppe kocht.
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