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06.08.2023 | (rsn) – Das Trikot der niederländischen Nationalmannschaft hatte ganz schön gelitten. Erst weichte es der Regen von Glasgow komplett auf, dann riss es an der rechten Flanke auch noch auf, als sein Träger 16,5 Kilometer vor dem Ende stürzte und in Führung liegend über den Asphalt schlitterte. Doch zum Glück – wobei das letztlich keineswegs den Ausschlag gab – konnte sich sein Träger später noch ein anderes überziehen, denn Mathieu van der Poel krönte sich trotz aller Schwierigkeiten in Schottland im Straßenrennen der Elite-Männer zum Weltmeister 2023 und ist damit künftig im Regenbogentrikot unterwegs.
Hinter van der Poel, der den ersten WM-Titel auf der Straße seit Joop Zoetemelk 1985 für sein Land einfuhr, holte Wout Van Aert Silber. Der Belgier hatte sich auf den letzten Metern des 271 Kilometer langen Rennens von seinen Begleitern Tadej Pogacar (Slowenien) und Mads Pedersen (Dänemark) abgesetzt. Der Slowene gewann im Sprint den Kampf um Bronze.
Nach fünf Weltmeistertiteln bei der Cross-Elite und drei weiteren im Juniorenbereich – einen davon auf der Straße - ist es für van der Poel insgesamt das neunte Regenbogentrikot. “Das bedeutet mir alles. Das war eines der größten Ziele, die ich noch hatte. Heute zu gewinnen, komplettiert meine Karriere meiner Meinung nach schon fast“, fand der neue Weltmeister große Worte für seine große Tat. “Für mich ist es der größte Erfolg auf der Straße. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, ein Jahr im Regenbogentrikot zu fahren.“
Seine entscheidende Attacke hatte er auf der vorletzten Runde 22 Kilometer vor dem Ziel lanciert, als er gemeinsam mit Van Aert, Pogacar und Pedersen den bis dato Führenden Alberto Bettiol (Italien) gerade eingeholt hatte. “Das war die härteste Stelle des Parcours, denn es ging erst bergab und dann sofort hoch. Ich fühlte mich noch gut und spürte, dass die anderen am Limit waren. Als ich angriff, hatte ich nicht erwartet, gleich so eine Lücke zu haben. Aber als ich niemanden hinter mir sah, verlieh mir das Flügel“, so van der Poel. Bis dato hatte sich der 28-Jährige meistens zurückgehalten, zumal ihm sein Team, auch Defekt- und Sturzpech geschuldet, kaum helfen konnte.
Aber auch sein eigener Sturz konnte van der Poel nicht mehr aufhalten. “Ich dachte kurz, dass es vorbei wäre. Es war nicht unbedingt dumm, ich bin keine unnötigen Risiken eingegangen. In der Kurve lag ich trotzdem plötzlich auf dem Asphalt. Ich war ziemlich wütend auf mich. Ich hätte nur auf dem Rad bleiben müssen und habe genau das nicht geschafft. Es war stellenweise superrutschig. Wenn mich das den Titel gekostet hätte, hätte ich einige Tage nicht schlafen können.“
Das WM-Rennen hatte schon früh Tempo aufgenommen. Bereits 120 Kilometer vor dem Ziel wagten sich einige der Favoriten erstmals aus der Deckung, sodass aus dem Rennen über den winkligen Stadtkurs schnell ein Ausscheidungsfahren wurde. Doch nicht nur sportlich sorgte das Rennen für Schlagzeilen. Auf der Anfahrt von Edinburgh nach Glasgow hatten sich Demonstranten auf die Straße geklebt, woraufhin für eine knappe Stunde unterbrochen werden musste.
Als bester Deutscher beendete John Degenkolb (+ 8:30 Minuten) das Rennen als 16. Lediglich Jonas Rutsch erreichte aus dem BDR-Team noch das Ziel – als 41. Von 51 Fahrern, die das Rennen beendeten. Stefan Küng (+ 3:48) finishte für die Schweiz als Fünfter. “Es ist schön, wieder vorn dabei zu sein, aber bei einer WM zählen nur die Medaillen“, sagte er. Erster Österreicher im Ziel war Patrick Gamper (22. / + 8:30). Er hatte das Rennen lange als Teil der Spitzengruppe bestimmt und wurde mit seinen Kompagnons 73 Kilometer vor dem Ziel gestellt.
Top-Favorit Remco Evenepoel (Belgien) zählte zu diesem Zeitpunkt zwar noch zur großen Hauptgruppe, war, wenn er nicht gerade attackierte, aber häufig an deren Ende zu finden. Im Ziel hatte der jetzt als Ex-Weltmeister geführte 23-Jährige als 25. mehr als zehn Minuten Rückstand auf seinen Nachfolger.
Nachdem sich auf den ersten Kilometern zunächst die Exoten zeigten, setzte sich nach etwa 20 Kilometern eine neunköpfige Gruppe ab. Gamper, Owain Doull (Großbritanien), Kevin Vermaerke (USA), Harold Tejada (Kolumbien), Petr Kelemen (Tschechien), Matthew Dinham (Australien), Krists Neilands (Lettland), Rory Townsend (Irland) und Ryan Christensen (Neuseeland) fuhren sich zwischenzeitlich mehr als acht Minuten heraus und schafften es bis tief in den Glasgower Rundkurs.
Zwischenzeitlich wurde die Gruppe durch einen Protest gestoppt. Etwa bei Kilometer 80 hatten sich Demonstranten teilweise auf die Strecke betoniert, auch das Peloton musste stoppen. Nach einer knappen Stunde wurde das Rennen wieder aufgenommen, die Spitzengruppe wurde mit sechseinhalb Minuten vor dem Rest losgeschickt.
Mehrere Verfolger machten sich danach auf den Weg nach vorne, wurden aber immer wieder eingefangen. Zu den prominentesten Fahrern gehörten dabei Mattias Skjelmose (Dänemark), Lorenzo Rota (Italien) und Tobias Halland Johannessen (Norwegen), die sich als Trio gemeinsam versuchten, 120 Kilometer vor dem Ziel aber wieder gestellt waren.
Seit das Feld 147 Kilometer vor dem Ziel auf den Stadtkurs eingebogen war, dominierten Dänemark und Belgien die Tempoarbeit. Ein extrem offensiv gefahrenes Rennen gestaltete sich in der Folge. Bettiol und Neilson Powless (USA) attackierten noch deutlich vor der 100-Kilometer-Marke, konnten sich zwar nicht absetzen, sorgten aber dafür, dass das Hauptfeld extrem ausgedünnt wurde und schon früh nur noch 50, 60 Fahrer umfasste. Mehr als 30 waren zu diesem Zeitpunkt aber auch bereits ausgeschieden.
Das extrem aggressiv gefahrene Rennen sorgte auch früh dafür, dass sämtliche Sprinter zu den Abgehängten bzw. Ausgestiegenen zählten. 92 Kilometer vor dem Ende schrumpfte dann auch die Spitzengruppe auf sieben Profis zusammen. Tejada konnte das Tempo nicht mehr halten, Townsend fiel mit Defekt zurück. Der Vorsprung der Ausreißer betrug zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Minute.
Hinten ging hingegen das Ausscheidungsfahren weiter. Mathieu van der Poel attackierte, nachdem die vom Defekt-Pech gebeutelten Niederländer bis dato kaum in Erscheinung traten. Zwischenzeitlich konnte er mit seiner Attacke auch Evenepoel abhängen, doch der Belgier fuhr wieder ran. Mit weiteren Fahrern im Gepäck brachte er die erste Verfolgergruppe zum Ende der siebenten Runde wieder auf eine Stärke von etwa 30 Fahrern, zu denen auch Degenkolb zählte.
Bis auf Vermaerke waren die Ausreißer 73 Kilometer vor dem Ende gestellt. Hinten trat Pedersen nochmal aufs Tempo. Seinen Angriff konnten nur Ex-Ausreißer Dinham, van der Poel, Pogacar, Van Aert und Bettiol folgen. Die Gruppe mit allen favorisierten Nationen konnte sich bis auf 30 Sekunden absetzen, aber Benoit Cosnefroy (Frankreich) egalisierte die Lücke nahezu allein – auch Vermaerke war damit eingefangen.
Das Profil des WM-Straßenrennens der Männer | Foto: Veranstalter
Bevor es auf die letzten vier Runden ging, attackierte Evenepoel, der sich zuvor häufig am Ende der Gruppe zeigte, erneut. Die Gruppe schrumpfte auf 18 Fahrer zusammen, Degenkolb zählte nicht mehr dazu. Kurz danach zog ein heftiger Schauer über die Strecke und machte die Straßen rutschig. Das nutzte Bettiol 55 Kilometer vor dem Ende, eine weitere Attacke zu fahren. Bis zu 30 Sekunden erarbeitete sich der letzte im Rennen verbliebene Italiener.
42 Kilometer vor dem Ziel setzte sich erneut ein Favoriten-Quartett um Pedersen, van der Poel, Van Aert und Pogacar ab. Und das hatte dann auch gesessen. Dieses Mal gab es keinen Cosnefroy, der die Lücke wieder schloss. Während Evenepoel auch den Kontakt zu den zweiten Verfolgern nicht halten konnte, bemühten sich Powless, Schmid und Toms Skujins (Lettland) um den Wiederanschluss nach vorne, scheiterten aber.
Zwei Runden vor dem Ende hielt sich Bettiol weiter vor der Spitzengruppe, der Regen hatte sich auf eine Hälfte der Strecke zurückgezogen. Van Aert, Pedersen, Pogacar und van der Poel hatten 25 Sekunden Rückstand, das Trio dahinter 45 Sekunden.
Bettiol wurde 22 Kilometer vor dem Zeil gestellt – und genau in dem Moment lancierte van der Poel eine weitere Attacke und setzte sich von seinen Verfolgern ab. Schnell war das Loch auf 20 Sekunden aufgegangen. Doch als noch 16,5 Kilometer zu fahren waren, rutschte der Niederländer aus einer nassen Kurve. Mit lädiertem Schuh sprang er wieder aufs Rad – und der Vorsprung hielt.
Das Verfolger-Trio, das davon nichts mitbekam, da das Rennen ohne Teamfunk gefahren wurde, hatte zu dem Zeitpunkt den Titel aber bereits abgehakt und kämpfte mit sich selbst. So konnte sich van der Poel trotz des Zwischenfalls noch fast zwei Minuten Vorsprung herausfahren und gestenreich im Ziel jubeln. Nachdem sich Van Aert noch etwas Vorsprung herausgefahren hatte und Zweiter wurde, hatte Pogacar im Sprint um Rang drei die Nase gegenüber Pedersen vorne.
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