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11.08.2023 | (rsn) – Wie immer war Remco Evenepoel bestens informiert. Es passiert selten, dass ihm irgendjemand sagen muss, welche neue Bestmarke er da nun wieder aufgestellt hat. “Ich glaube, ich bin der erste Belgier, der einen Titel im Zeitfahren gewinnt“, sagte der Mann, der gerade eben ins Regenbogentrikot geschlüpft war, dann auch. Und hatte damit Recht. Nur einen Rekord unterschlug er damit noch. Denn mit 23 Jahren konnte den seit 1994 vergebenen Titel noch keiner gewinnen.
Nach 47,8 Kilometern war Evenepoel zwölf Sekunden schneller als der Italiener Filippo Ganna, der 2020 und 2021 jeweils das Regenbogentrikot holte. Bronze ging an den erst 19 Jahre alte Joshua Tarling. Der Waliser, der im letzten Jahr noch Weltmeister bei den Junioren war, ließ die U23 einfach aus und stellte direkt bei der Elite unter Beweis, was er kann. 48 Sekunden verlor er auf Evenepoel. Nach hinten klaffte aber eine riesige Lücke. Der US-Amerikaner Brandon McNulty hatte als Vierter fast anderthalb Minuten Rückstand auf Evenepoel. Dessen Landsmann Wout Van Aert, der ebenfalls mit Titelambitionen ins Rennen ging, wurde Fünfter (+1:37) vor dem Portugiesen Nelson Oliveira (+1:52) und dem Australier Rohan Dennis (+1:53), wie Ganna zweimaliger Zeitfahrweltmeister.
Der norwegische Vorjahressieger Tobias Foss (+2:04) landete auf Platz elf und damit eine Position vor dem Vorjahreszweiten Stefan Küng. Der Schweizer, ebenfalls mit großen Erwartungen gestartet, wies 2:17 Minuten Rückstand auf den neuen Weltmeister auf. Fernab von den eigenen Vorstellungen erreichten auch Tadej Pogacar (Slowenien) und Remi Cavagna das Ziel. Beide landeten außerhalb der Top 20. Der Franzose war nach der ersten Zeitmessung noch Vierter gewesen. Genau andersherum hatte es McNulty gemacht, der zu Beginn nicht in den Top 15 geführt wurde.
Konstant unterwegs war hingegen Lennard Kämna, der schließlich genau drei Minuten hinter Evenepoel den 19. Platz belegte. Für den zweiten deutschen Starter Nils Politt hingegen reichte es nur zu Platz 32. Die Österreicher Patrick Gamper und Felix Ritzinger wurden 37. Beziehungsweise 51. Der zweite Schweizer Stefan Bissegger landete auf Rang 16.
“Es war eines meiner größten Ziele in dieser Saison, genau heute zu gewinnen“, freute sich Evenepoel am Eurosport-Mikrofon über die Goldmedaille, die er seiner bereits äußerst großen Sammlung hinzufügen kann. Den Verlust des Titels im Straßenrennen dürfte er damit verschmerzt haben. Anders wäre es wahrscheinlich auch gar nicht gegangen. Denn alle, die auf dem Glasgower Rundkurs bis zum Ende voll reingehalten hatten, mussten sechs Tage später im Zeitfahren Tribut zollen: Van Aert, Pogacar, Küng – Silber, Bronze und Platz fünf – sie alle konnten sie nicht in gewohnter Form liefern.
Evenepoel, im Straßenrennen nur 25., hatte am vergangenen Sonntag aber vorzeitig rausgenommen. Und konnte nun besser liefern als erwartet. “Ich hatte einen Supertag und bin zufrieden damit. Ich konnte härter und schneller fahren als wir geplant hatten, war fast immer 15 Watt über meinen Vorgaben. Nach 30 Minuten wusste ich, ich bin noch nicht an meinem Limit und die Beine können noch.“ Dabei musste Evenepoel auch zulegen, denn an der ersten Zwischenzeit hatte Ganna noch knapp die Nase vorne. Das änderte sich dann aber am zweiten Messpunkt. “Da lag ich vor ihm und dann kam ja eigentlich erst mein Terrain mit dem Auf und Ab.“
Der Italiener hatte jedoch kein Problem damit, sich dem Belgier geschlagen geben zu müssen. Er verwies auf seine Bilanz aus den Tagen von Schottland: “Ich habe jetzt drei Rennen und drei Medaillen. Ich weiß nicht wie viele Fahrer das hier behaupten können“, so der 27-Jährige.
Mehr als nur zufrieden wird Youngster Tarling auf die WM zurückblicken. “Es ist verrückt. Wir sind zu Hause. Australien (der Junioren-WM-Titel letztes Jahr in Wollongong, d. Red.) war besonders, aber das ist das nächste Level“, jubelte er. Und musste dann noch ein wenig Unerfahrenheit eingestehen. “Mein Garmin war auf dem Autodach montiert, ich hatte eigentlich keine Werte“, beschrieb er einen Fauxpas, um dann noch einen Anflug von Übermut eingestehen zu müssen. “Ich hatte den Berg am Ende auch nicht besichtigt, dachte, es geht nur ein wenig hoch. Aber wenn du dann reinkommst, geht es hoch in die Wolken.“ Dort verlor er folgerichtig dann auch die meiste Zeit, doch am überaus erfolgreichen Abschneiden sollte das nichts mehr ändern.
Der für das Flüchtlingsteam des Radsportweltverbands UCI startende Ahmad Wais rollte als erster von 78 Startern von der Rampe. Danach dauerte es nicht lange, bis die ersten Zeitfahrspezialisten an der Reihe waren. Bora-hansgrohe-Profi Ryan Mullen startete ebenso früh wie sein Teamkollege Politt, der als bereits 15. Starter das Rennen aufnahm. Doch fast genauso schnell stellte sich heraus, dass der Deutsche Zeitfahrmeister keine Rolle im Kampf um eine Spitzenplatzierung spielen würde. Denn schon der norwegische Elitefahrer Iver Knotten nahm Politt an der ersten Zwischenzeit nach 12,9 Kilometern deutliche 15 Sekunden ab.
Statt Politt lag eher Mullen auf Top-Ten-Kurs. Am zweiten Messpunkt nach 34,6 Kilometern hatte der Deutsche auf den Iren bereits 25 Sekunden Rückstand. Und Mullens Bestzeit im Ziel hatte auch recht lange Bestand. Das Stirling Castle erreichte er nach 58:21 Minuten, was einem Schnitt von 49,14 km/h entsprach. Politt brauchte 53 Sekunden länger.
Unterdessen dauerte es bis Starter 48, ehe Knottens Zeit am ersten Messpunkt unterboten wurde. Der Südafrikaner Stefan de Bod war vier Sekunden schneller, doch dann kam Politts Teamkollege Kämna, der die Latte nochmal um vier Sekunden weiter nach unten legte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Nelson Oliveira (Portugal), Bruno Armirail (Frankreich) und Kasper Asgreen (Dänemark) verbesserten Kämnas Marke jeweils um ein paar Sekunden.
Und dann kam Tarling, der mit 14:03 Minuten einen Wert setzte, der den von Asgreen um weitere 18 Sekunden unterbot. Auch Van Aert konnte dort nicht mithalten, er fuhr als Sechster am ersten Messpunkt vorbei. Es bedurfte schon eines Zeitfahr-Doppelweltmeisters, Tarlings Zeit zu verbessern. Ganna war sechs Sekunden schneller als der letztjährige Juniorenweltmeister. Und auch Evenepoel konnte sich noch vor Tarling setzen. Der letztjährige Vizeweltmeister Küng hingegen hatte bereits 40 Sekunden Rückstand.
Das Profil des WM-Zeitfahrens der Männer | Foto: Veranstalter
Kämna erreichte nach 58:19 Minuten das Ziel und war damit zunächst Zweiter hinter dem Derek Gee. Doch auch die Zeit des Kanadiers hatte nicht lange Bestand. Zugleich deutete nichts darauf hin, dass Tarling zu Beginn überpowert haben könnte. Am zweiten Messpunkt nach 34,6 Kilometern hatte Van Aert bereits eine Minute Rückstand auf den Waliser. Ganna hingegen baute seinen Vorsprung auf 13 Sekunden aus. Dafür war Evenepoel plötzlich um zwölf Sekunden schneller als der Italiener.
Trendwenden gab es auch bei McNulty und Remi Cavagna. Während der Franzose seinen Speed nicht halten konnte, arbeitete sich McNulty von Platz 16 auf vier vor. Auch die beiden Dänen Mikkel Bjerg und Kasper Asgreen büßten Zeit ein. Oliveira und auch der Australier Jay Vine dagegen rückten in die Top 10 vor.
Am dritten Messpunkt vier Kilometer vor dem Ziel ging es zwischen Ganna und Evenepoel eng zu, nur zehn Sekunden trennten die beiden. Tarling war da längst im Ziel, und zwar 38 Sekunden vor McNulty, der seinen Vormarsch weiter fortgesetzt hatte. Dennis wäre ebenfalls für die Top 5 gut gewesen, hätte er nicht am Fuße des steilen Anstiegs aufgrund eines Defekts seine Rennmaschine wechseln müssen. Die Wartezeit auf das neue Rad und der damit verbundene Verlust des Schwungs kosteten dem zweimaligen Weltmeister im letzten Rennen der Karriere entscheidende Sekunden, wenn es auch nicht zum Podium gereicht hätte
Und auch beim Kampf um Gold tat sich nichts mehr. Ganna und Evenepoel fuhren nahezu im gleichen Tempo den Berg hinauf, das Ziel erreichte der neue Weltmeister aus Belgien zwölf Sekunde vor dem Titelträger der Jahre 2020 und 2021.
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