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02.07.2024 | (rsn) – Am Montag ist in Turin gleich doppelt Radsport-Geschichte geschrieben worden. Nicht nur streifte mit Richard Carapaz (EF Education – EasyPost) erstmals ein Ecuadorianer das Gelbe Trikot der Tour de France über, vor allem sorgte Biniam Girmay (Intermarché – Wanty) für den ersten Tagessieg eines Afrikaners, der nicht aus Südafrika kommt, bei der Frankreich-Rundfahrt. Klar: Das sorgte nach der mit 230 Kilometern längsten Etappe der 111. Tour für große Emotionen.
"Zuerst muss ich mich bei Gott für alles bedanken, für die Stärke und Unterstützung, die er mir gegeben hat", sagte Girmay im ersten Sieger-Interview und pausierte dann für einen Moment, um ein paar Freudentränen zu verdrücken. "Als ich mit dem Radfahren begann habe ich mich gar nicht getraut daran zu denken, jemals bei einer Tour de France dabei zu sein. Dann jetzt bei meiner zweiten Tour einen Massensprint zu gewinnen, das ist unglaublich."
Doch der Sieg des 24-Jährigen war von viel größerer als nur der rein persönlichen Dimension. Und das war Girmay sehr bewusst. "Bisher gab es kaum einen schwarzen Fahrer, der auf der großen Bühne geglänzt hat. Aber heute ist der Tag, um unsere Stärke und unser Potential zu zeigen. Das bedeutet mir sehr viel, für meinen ganzen Kontinent und besonders für Eritrea", sagte er. ___STEADY_PAYWALL___
Das kleine Land am Roten Meer ganz im Osten Afrikas gilt mit seinen rund 3,7 Millionen Einwohnern schon lange als radsportverrückt. Einzig der Schritt auf die große Bühne in der WorldTour und bei der Tour de France gelang Eritreern nur selten. "Wir haben eine lange Geschichte im Radsport und uns Eritreern fließt wirklich Radsportblut durchs Herz. Die Leute bei uns wissen viel über die Tour de France. Dann jetzt heute hier zu gewinnen, ist großartig", sagte Girmay auf der Pressekonferenz in Turin.
Es war zu erwarten, dass Girmay dabei besonderen Bezug zu Daniel Teklehaimanot nahm, der vor neun Jahren in Le Havre das Bergtrikot überstreifte und für vier Tage trug. Das sorgte damals für einen regelrechten Hype und machte den eritreischen Radsport auch außerhalb Afrikas bekannt.
Daniel Teklehaimanot wird von eritreischen Fans 2015 im Bergtrikot bei der Tour de France gefeiert. | Foto: Cor Vos
Doch Girmay bemühte sich, nicht nur den heute 35-jährigen Teklehaimanot hervorzuheben. "All die Profis, die wir in Eritrea haben und hatten sind sehr stark – mental und physisch. Fast alle inspirieren sie mich! Teklehaimanot, Natnael (Berhane), (Merhawi) Kudus, diese Jungs waren schon bei der Tour und haben einige Rennen gewonnen. Sie kommen auch aus derselben Stadt wie ich und wir wohnen nah beieinander. Ich habe gesehen, wie sie sich verbesserten und wie sie Rennen gefahren sind, als ich aufwuchs", erinnerte der 24-Jährige an seine Vorgänger bei der Frankreich-Rundfahrt.
Inzwischen ist Girmay selbst das größte Aushängeschild von Eritreas Radsport. 2021 wurde er Vize-Weltmeister der U23 in Leuven mit einem unwiderstehlichen Sprint nach einem sehr harten WM-Rennen. Nur ein halbes Jahr danach gewann er als Neo-Profi direkt Gent-Wevelgem und weitere zwei Monate später eine Etappe des Giro d'Italia.
"Ich glaube heute werden daheim einige Tische und Fernseher zu Bruch gehen", scherzte Girmay nun in Turin ob des Enthusiasmus in seiner Heimat, der Hauptstadt Samara, bei 'Public Viewings' der Tour in Bars. "Als ich vor zwei Jahren beim Giro gewann, sind schon Flaschen und Tische durch die Bars geflogen, weil sie sich so gefreut haben. Ich kann mir vorstellen, dass es heute wirklich verrückt war daheim! Viele Leute stehen hinter mir und in den letzten zwei Wochen, wann immer ich trainieren gefahren bin, haben sie mich angefeuert und gesagt, dass sie sich auf die Tour de France freuen und einen Etappensieg von mir feiern wollen."
Auch in Deutschland weht die Fahne Eritreas: Biniam Girmay mit einigen Fans Ende Mai bei Rund um Köln. | Foto: Cor Vos
Und dann erinnerte er sich noch weiter zurück, daran wie für ihn selbst alles angefangen hat. "Mein Vater hat sehr gerne die Tour geschaut, als ich klein war. Jeden Juli hat er nach dem Mittagessen gesagt: Los Jungs, macht den Fernseher an, jetzt ist Zeit, Tour de France zu schauen", erzählte er. "Er hat uns das gezeigt und erklärt, wie alles funktioniert und wie schwer es ist – dass es das wichtigste Rennen der Welt ist."
Damals hatte Girmay vor allem Europäer, zu denen er aufschauen konnte. Peter Sagan war sein Idol, auch Mark Cavendish. "2011 war es, als ich meinen Vater gefragt habe: Meinst Du es ist möglich, dass ich da auch irgendwann bin?" Und was antwortete der Tischler? "Er sagte: 'Ja, wenn Du immer fest daran glaubst und hart arbeitest, ist alles möglich.' Diese Worte sind immer in meinem Kopf geblieben", so der frischgebackene Tour-Etappensieger, der damals elf Jahre alt war.
"2015 hat dann alles verändert. Als Daniel Teklehaimanot das Bergtrikot auf dem Podium angezogen hat, zeigte uns das, dass wirklich alles möglich ist und wir auch Siege feiern können. Das hat mir viel Mut gegeben. Aber natürlich gibt es auf dem Weg viele Hindernisse. Besonders als Afrikaner ist es nicht leicht, Profi zu werden. Wir fahren unsere lokalen Rennen und haben nicht viele Möglichkeiten, unser Potential und unsere Stärke zu zeigen. Deshalb sind Tage wie heute so wichtig, denn jetzt wird jeder glauben, dass afrikanische Fahrer, besonders aus Eritrea, alles erreichen und auch auf WorldTour-Level Erfolg haben können."
Biniam Girmay (Intermarché – Wanty) überquert den Zielstrich der 3. Tour-Etappe in Turin vor Fernando Gaviria (Movistar, rechts) und Arnaud De Lie (Lotto – Dstny, links) als Erster. | Foto: Cor Vos
Girmay setzte dann zu einem langen Monolog an und betonte, wie wichtig die Förderung aus Europa und vor allem auch die Talentscouts der großen Rennställe dabei seien, Afrikanern den Weg zu ebnen. "Die UCI ging schon mit einem guten Beispiel voran. Wenn man auf die letzten zehn oder sogar mehr Jahre schaut: Daniel Teklehaimanot war im Entwicklungs-Team beim UCI Cycling Center, auch Merhawi Kudus und Louis Meintjes waren dort. Es ist sicher viel Talent in Afrika, aber es hängt immer davon ab, wie die Teams sich dort umschauen und die Fahrer unterstützen", meinte Girmay.
"Wir müssen schon als Junioren nach Europa kommen, denn ich erinnere mich daran, wie ich am Anfang erstmal ein Jahr fast nichts gemacht habe, weil ich die europäische Kultur kennenlernen musste, die komplett anders ist, als unsere. Ich musste Englisch lernen, auch die Radsport-Sprache. Das dauert wirklich! Wenn man dann schon 22 oder 23 ist, hat man schon viel Zeit verloren. Ich weiß nicht warum, aber in den letzten drei Jahren hatte die UCI keinen Afrikaner mehr in ihrem Development-Team. Ich kann nur sagen: Bitte macht weiter und sucht die jungen Talente, unterstützt sie und lasst sie Teil der europäischen Rennen werden!"
Dabei nahm Girmay auch Bezug auf Carapaz' Gelbes Trikot: "Es ist wirklich schön, dass heute ein Ecuadorianer das Gelbe Trikot bekommen und ein Afrikaner die Etappe gewonnen hat. Das zeigt, wie global der Radsport jetzt ist. Früher waren es hauptsächlich die Europäer, aber jetzt sind Fahrer aus der ganzen Welt konkurrenzfähig", freute er sich. "Ich hoffe, dass es so weitergeht. Dann können wir viele junge Talente inspirieren. Aber wie gesagt: Auch die Teams müssen außerhalb von Europa nach Talenten schauen."
Girmay sprintet an Mads Pedersen (Lidl – Trek) vorbei an die Spitze und dem Sieg entgegen. | Foto: Cor Vos
Bis 2018 stand das Team Dimension Data, vorher MTN – Qhubeka, für die Förderung der afrikanischen Talente. Die in Südafrika lizenzierte Mannschaft brachte beispielsweise auch die von Girmay genannten Berhane, Kudus und Teklehaimanot in die WorldTour, genau wie Mekseb Debesay oder Amanuel Ghebreigzabhier – alles Eritreer. Doch ab 2019 verlagerte sich der Fokus des Kaders und Ende 2021 musste der Rennstall seine Tore schließen. Die entstandene Lücke ist seither nicht wirklich geschlossen worden, die engste Verbindung nach Afrika hat aber trotzdem die Nachfolgemannschaft Q36.5, die ebenfalls Douglas Ryder gehört. Ihr Development-Team auf Continental-Niveau ist zwar in Itlaien lizenziert, besteht aber beinahe zur Hälfte aus Afrikanern.
Interessant an Girmay ist übrigens auch, dass er seinen Sieg im völlig flachen Massensprint von Turin errungen hat. Denn der Stereotyp des eritreischen Radrennfahrers war stets ein anderer. "Viele bei uns haben einen schlanken Körper, wiegen wenig. Deshalb war die Mentalität immer: Wir Eritreer, wir sind Bergfahrer", erzählte Girmay. Er selbst aber orientierte sich eben an seinen Idolen, den Fahrern, die ihm ganz persönlich am meisten zusagten: Sagan und Cavendish. "Deshalb habe ich immer versucht, mich im Sprint zu verbessern, seit ich 2011 als Kind angefangen habe. Ich bin immer im Training zehn Kilometer mit wiederholten Sprints gefahren. Jetzt bei den schnellsten der Welt zu sein, das ist unglaublich und gibt mir viel Motivation."
Vor allem aber hofft Girmay, dass es auch seinen Landsleuten und Kindern auf dem ganzen afrikanischen Kontinent Motivation und Mut gibt, dass sie alles erreichen können – entgegen aller Stereotype. Schon im nächsten Jahr findet in Ruanda zum ersten Mal die Straßen-Weltmeisterschaft in Zentralafrika statt.
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