Herbert Watterotts Paris-Roubaix-Retrospektive / Teil 2

An einem Sonntag in der „Hölle“

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

06.04.2012  |  (rsn) - Im nordfranzösischen Kohlenrevier herrscht kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts Depression und Hoffnungslosigkeit. In Roubaix, einem der europäischen Zentren zur Herstellung von Wolle, malochen die Arbeiter unter miserablen Bedingungen sechs Tage in der Woche.

Um die Menschen von ihrer schweren Arbeit abzulenken und ihnen mehr Vergnügen zu bieten, lassen die beiden Industriellen Theo Vienne und Maurice Perez 1895 in der Stadt der 1000 Kamine ein Radstadion bauen. Nachdem sich die Bahn-Meetings großer Beliebtheit erfreuen, beschließen die beiden Unternehmer ein Jahr später, also 1896, ein Radrennen von der französischen Hauptstadt Paris nach Roubaix zu veranstalten. Im selben Jahr finden in Athen auch die ersten Olympischen Spiele statt. Teil 2 der Retrospektive:

1964 – „Der fliegende Holländer“
Bei herrlichem Sonnenwetter und viel Staub geht 1964 im wahrsten Sinne des Wortes die Post ab. Der lange Holländer Peter Post legt die 265 Kilometer mit dem neuen und bis heute gültigen Rekord-Stundenmittel von 45,129 km/h zurück und gewinnt vor dem belgischen Straßen-Weltmeister Benoni Beheyt und dessen Landsmann Yvo Molenaers. Post ist bisher der einzige Profi der die 45 Kilometer-Schallmauer übertroffen hat. Sechs andere Rennfahrer (die Belgier Rik van Steenbergen, Germain Derycke, Pino Cerami und Johan Museeuw, der Schweizer Fabian Cancellara sowie der Italiener Francesco Moser) bewältigten das Rennen mit einem Stundenmittel von über 43 km/h.

1968 – Die Hölle wird noch heißer
Die ohnehin schon mörderische Streckenführung wird 1968 modifiziert und durch eine 2.500 Meter lange Passage durch den Wald von Arenberg ergänzt. Hier sind die Pavés, die Kopfsteinpflastersteine, in besonders miesem Zustand. Dieses Teilstück gilt bis heute als „Scharfrichter“, denn noch immer sind rund 100 Kilometer zurückzulegen. Für die Favoriten beginnt hier erst das Rennen, für viele ist der Ausflug in die Hölle jäh zu Ende. Zuschauermassen drängen sich auf diesem engen Waldstück und erleben schlimme Stürze. 1998 bricht sich der dreimalige Sieger Johan Museeuw (1996, 2000, 2002) aus Belgien die Kniescheibe und 2001 muss der Franzose Philipe Gaumont mit Oberschenkelbruch ausscheiden.

1968 – Triumph des Kannibalen
In diesem Jahr 1968 steht auch der Name Eddy Merckx/Belgien in der Starterliste. Der „Kannibale“, wie er vom französischen Profikollegen Christian Raymond später genannt wird, „fliegt“ durch den Wald von Wallers-Arenberg und gewinnt erstmals. Eine traumhafte und erfolgreiche Karriere beginnt. 1970 und 1973 kommen zwei weitere Siege hinzu. Insgesamt holte sich Merckx in seiner Laufbahn 525 Siege.

1972 – Siegeszug eines Fanatikers
Der Belgier Roger de Vlaeminck, sein Spitzname „Der Zigeuner von Eeklo“, aus dem kleinen Städtchen zwischen Brügge und Gent, drückte Paris-Roubaix über drei Jahrzehnte von 1969 bis 1982 seinen Stempel auf. Er trainierte für dieses Rennen jedes Jahr wie ein Bessesener, in der Vorbereitung an vier Tagen nahezu 1000 Kilometer. Er kam auf 14 Teilnahmen, bei denen er 13 Mal das Ziel erreichte. 1972, 1974, 1975 und 1977 gewann er in der Hölle des Nordens und erhielt den Zusatz „Monsieur Paris-Roubaix“. De Vlaeminck ist bis heute der einzige Rennfahrer, der das Rennen viermal siegreich beendete. Und eines ist bemerkenswert, er hatte in dieser Zeit nicht eine einzige Reifenpanne. Glück und Können zugleich.

Die italienischen Reporter und Tifosi freilich bewerten die drei aufeinander folgenden Siege ihres Landsmannes Francesco Moser zwischen 1978 und 1980 so hoch, denn für sie ist Francesco Moser der wahre „Signore Parigi-Roubaix“.

1981 – Sieg beim „Anachronismus“
Vor einer gewaltigen Kulisse wurde Bernard Hinault, der fünfmalige Toursieger, 1980 in Sallanches am Fuße der Savoyer Alpen neuer Straßenweltmeister. Neun Monate später fasste er endlich den Entschluss bei Paris-Roubaix an den Start zu gehen. Bis dahin hatte er nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen diesen „Anachronismus Kopfsteinpflaster“ gemacht. Meisterlich kämpfte er sich mit einer Riesenübersetzung von 53x13 über den rutschigen und mit Schlamm bedeckten Belag und siegte unangefochten. Das war einfach weltmeisterlich!

1983 – Trauriger Rekord
Der spanische Bahn- und Straßenspezialist Pello Ruiz-Cabestany aus der baskischen Metropole San Sebastian hält bis heute eine einzigartige Rekord-Pechsträhne: 1983, beim Sieg des Holländers Hennie Kuiper, stürzte der baskische Zeitfahrspezialist auf einem einzigen Kilometer sage und schreibe sechsmal.

1994 – Wintereinbruch im April
In diesem Jahr sagt der Wetterbericht seit Tagen schlechtes Wetter voraus. Manche glauben, sie seien in Sibirien, denn die Hölle zeigt sich von ihrer kältesten Seite seit Jahren. Schnee und Schneematsch machen das Rennen zu einer Tortur. Nur die Besten der Besten können bestehen. Es gewinnt eine schillernde Fahrerpersönlichkeit. Der Mann heißt Andrej Tschmil, aufgewachsen in Russland, ausgestattet mit einer ukrainischen Lizenz und damals wohnhaft in Roubaix.

1996 – Regie im Hintergrund und eine Drohung
Die übermächtige Mapei-Mannschaft, mit reichlich Sponsorengeld vom italienischen Industriellen Giorgio Squinzi versorgt, beherrscht 1996 das Rennen vom Start bis ins Ziel. Am Ende treffen Johan Museeuw, Gianluca Bortolami und Andrea Tafi alleine im Velodrom ein und überqueren auch in dieser Reihenfolge den Zielstrich, nachdem ihr Sportlicher Leiter Patrick Lefévère diesen Einlauf bestimmt hatte. Nur weil er im entscheidenden Moment einen Defekt hatte, war der vierte Mapei-Profi Franco Ballerini (Sieger 1995 und 1998) nicht dabei.

Mapei-Boss Giorgio Squinzi war im siebten Himmel und über Nacht in der Hölle. Die Anweisung des Sportlichen Leiters Lefévère verurteilten die italienischen Zeitungen vehement, worauf Geldgeber Squinzi drohte, sich als Sponsor zurückzuziehen.

1998 – Der Gentleman aus der Toskana
Drei Jahre nach seinem ersten Erfolg begeisterte 1998 der Italiener Franco Ballerini aus Florenz die Massen entlang der Strecke durch seine elegante und fast mühelos aussehende Fahrweise. 13 Jahre lang startete er bei seinem Lieblingsrennen und beendete seine Karriere am 15. April 2001 bei seiner letzten Teilnahme.

Franco Ballerini übernahm danach das Amt des italienischen Nationaltrainers für die Straße. Am 7. Februar 2010 verunglückte er als Beifahrer bei einer Auto-Amateur-Rallye nach Larciano in der Toskana und erlag seinen schweren Verletzungen. Ballerini führte als Nationaltrainer in zehn Jahren gleich vier Azzurri zu Weltmeisterschaften auf der Straße und zwar Mario Cipollini 2002 in Zolder/Belgien, Paolo Bettini 2006 in Salzburg und 2007 in Stuttgart sowie Alessandro Ballan 2008 in Varese/Italien.

2001 – Pech, Pannen und geplatzte Träume
Nach dem bisher einzigen deutschen Sieg durch Josef Fischer beim Premieren-Rennen 1896 hat es kein deutscher Fahrer mehr geschafft, die Königin der Klassiker Paris-Roubaix zu gewinnen. Oft fehlten nur wenige Kilometer bis ins Velodrom. Durch Defekte und Reifenpannen blieb der große Triumph aus.

Bereits 1965 traf es den mehrmaligen Querfeldein-Weltmeister Rolf Wolfshohl brutal hart. Während Rik van Looy das Ziel ohne Reifenpanne und zum dritten Mal als Sieger erreichte, waren seine Widersacher Wolfshohl und Jan Janssen aus Holland auf verlorenem Posten. In weniger als einer halben Stunde erlitt der Kölner Cross-Spezialist Wolfshohl drei Reifendefekte und stürzte einmal. Janssen brauchte für die gleiche Pechsträhne nur zehn Minuten. So zerplatzten die Siegesträume wie Seifenblasen.

Im Jahr 2001 musste der Deutsche Steffen Wesemann bei Regen und Eiseskälte nach 255 Kilometer seine Siegesambitionen begraben. Schuld daran war ein defekter Rennschuh. Auf den letzten 70 Kilometern hatte Wesemann wiederholt Schwierigkeiten mit seinem linken Schuh. Das ganze Drama war bestens in der Eurovisionsübertragung des Französischen Fernsehens zu verfolgen. Als Live-Kommentator der ARD hatte ich so etwas in all den Jahren noch nie erlebt. Die Sohle mit der Klickvorrichtung für die Pedale war defekt. Zweimal Radwechsel, einmal die Pedale und danach kämpfte sich Wesemann immer wieder alleine an die enteilte Spitzengruppe heran. Ein Schuhwechsel war zu riskant, Wesemann verzweifelt, war in blendender Form und konnte nichts ausrichten. Er erreichte die glitschige Piste des Velodroms von Roubaix 41 Sekunden hinter dem holländischen Sieger Servais Knaven auf dem siebten Platz. Nur 55 Fahrer von 190 Startern überstanden die „Hölle des Nordens“.

1896 – 2011 Die deutschen Kopfsteinplaster-Spezialisten
Zur Erinnerung: Den bisher einziger deutschen Sieger gab es durch Josef Fischer 1896. Zweite Plätze holten sich Josef Fischer/1900, Olaf Ludwig/1992 und Steffen Wesemann/2002. Dritte Ränge erkämpften sich sechs Deutsche: Herbert Sieronski/1932, Rudi Altig/1967, Dietrich Thurau/1980, Gregor Braun/1982, Olaf Ludwig/1993 und Erik Zabel/2000. Steffen Wesemann wurde 2007 nochmals Dritter. Damals hatte er aber schon seit zwei Jahren die Schweizer Staatsbürgerschaft, weshalb die Platzierung den Eidgenossen gutgeschrieben wurde.

Am Ostersonntag, den 8.April 2012, findet die 110. Austragung von Paris-Roubaix über 258 Kilometer statt. Es geht über 27 legendäre Kopfsteinpflaster-Abschnitte mit einer Gesamtlänge von 51,5 Kilometer. Wie am 19.April 1896 heißt es dann wieder für die Rennfahrer: „An einem Sonntag in der Hölle“….



Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 70-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.

Für Radsport News taucht Herbert Watterott in die lange Geschichte von Paris-Roubaix ein und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden des französischen Frühjahrsklassikers, der für viele das schwerste Eintagesrennen der Welt ist.

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