Tour-Blog

Zu schön, um wahr zu sein?

Von Andreas Schulz, Eurosport

Foto zu dem Text "Zu schön, um wahr zu sein?"
Christopher Froome (Sky) auf dem Podium der 100. Tour de France | Foto: ROTH

22.07.2013  |  (rsn) - „Dieser Sieg wird Bestand haben", hat Chris Froome auf dem Podest in Paris versprochen. Was spricht dafür, dass er Wort hält? Wir präsentieren die Fakten - Sie entscheiden, was Sie glauben.

Was für eine Geschichte! Ein Junge aus Nairobi gewinnt die Jubiläums-Tour, nachdem er sich als spätberufener Radler erst in Afrika, dann über die „Entwicklungshilfe" des Weltverbandes und schließlich unter Anleitung des besten Teams der Szene zum Dominator aufschwingt.

Nachdem er eine bösartige Krankheit überwunden, bei der WM 2006 als Lachnummer gedient, eine Razzia im Teamhotel bei der Tour 2008 erlebt und im Vorjahr noch den eigensinnigen Edelhelfer des ersten britischen Toursiegers gegeben hat. Wer soll das glauben? Nach einem krebskranken Texaner, einem Mennoniten mit kaputter Hüfte und einem Steak-Fan mit Aneurysma? Unglaublichen Geschichten, bei denen aber außer der Krankenakte wenig der Wahrheit entsprach.

„Es ist verständlich, dass die Fans wütend und frustriert sind", sagt Chris Froome, „ich bin selbst von diesem Sport enttäuscht worden." Ja, es gibt schönere Jobs als der erste Tour-Sieger nach dem Platzen der Armstrong-Bombe zu sein. Der Brite hat nicht nur drei Wochen, sondern die ganze Saison lang großes Verständnis für die enorme Skepsis, die seinen Leistungen entgegenschlug, gezeigt. Gleiches gilt für sein Team. Das verdient Respekt, denn das haben wir auch schon ganz anders erlebt.

Was ist also von diesem Tour-Sieger zu halten: Erleben wir einen Betrug von neuer Dreistigkeit? Oder bringen wir uns vor lauter verständlicher und notwendiger Vorsicht bzw. mit wohlfeilem Zynismus um eine der schönsten Geschichten des Sports?

Contra: Ich bin doch nicht blöd!
Was haben wir in der Hand: Grenzwertig gute Leistungen von Froome am Berg und im Zeitfahren. Dazu den Fakt, dass er innerhalb weniger Jahre fast schlagartig vom unauffälligen Profi mit vereinzelten guten Ergebnissen zum absoluten Top-Fahrer wurde. Das alles vor dem Hintergrund pausenloser Doping-Enthüllungen und neuer positiver Tests, die das Bild der Radszene prägen.

Denn auch meine erste Reaktion war die von wohl vielen Fans bei dieser Tour: Jedes Mal, wenn Froome zum Angriff blies, ob wild im Sattel kurbelnd oder per klassischem Antritt, sehe ich vor mir zwei Gestalten tänzeln: Contador und Rasmussen, die sich bei der Tour 2007 am Berg mit Sprints und Stehversuchen duellieren, während weit hinter ihnen der Rest des Feldes nach Atem ringt.

Seitdem bin ich allergisch gegen abartige Attacken.
Da brauche ich keine Stoppuhr und keine Wattzahl, da schrillen alle Alarmglocken von alleine – und vielen geht es ganz genauso. Ich bin beruflich gebranntes Kind genug: Man kann sich als TV-Kommentator sicher einfachere Rundfahrten für sein Debüt wünschen als die Tour-Ausgaben 07 & 08 mit Winokurow, Rasmussen, Moreni bzw. Beltran, Ricco, Duenas und Co.

Und spätestens seit der unbekannte Juan Mauricio Soler 2007 am Galibier den Tour-Rekord von Marco Pantani brach, habe ich mehr als nur ein Auge auf die Zahlen zum Renngeschehen.

Wenn jetzt also ein bei der Tour 2008 noch namenloser Froome inzwischen die Berge angeblich sauber, aber so schnell wie Armstrong erklimmt, ist doch also alles klar – oder? Zumal, wenn von einem so dürren Körper so extrem viel Energie produziert wird – da gibt es doch Mittel, die genau diesen Zweck erfüllen… Und was negative Tests und eifrige Unschuldsbeteuerungen wert sind, haben wir alle zu genüge erlebt.

Pro: Fakten statt Vermutungen
In der aufgeheizten Atmosphäre stritten Insider die ganze Tour, welche Wattberechnung und Zeitmessung korrekt ist, wie weit besondere Umstände des jeweiligen Tages in die Gleichung einzubauen sein – und bringen uns kaum weiter. Aber ein paar wirklich hilfreiche Fakten, Einblicke und Indizien sind in den letzten Wochen doch zusammengetragen worden:

1. Froomes Leistungen sind extrem und mit aller Vorsicht zu genießen – aber noch nicht so extrem, dass sie niemals ohne Doping machbar wären. Auf diesen Nenner kann man die Diskussion der Sportwissenschaftler bringen.

2. Er hat exzellente körperliche Voraussetzungen – und ja, auch der vieldiskutierte Wert seiner maximalen Sauerstoffaufnahmefähigkeit (VO2max) ist außergewöhnlich gut.

Den hat zwar Sky angeblich nie gemessen und alle suchen ihn verzweifelt, dabei ist er halbwegs bekannt: Einer seiner Trainer aus der Zeit am UCI-Trainingszentrum erinnert sich: „Er hatte einen sehr niedrigen Puls und einen VO2max zwischen 80 und 85, ohne besonders schlank zu sein“, so Michel Thèze. „Nachdem er seither etwa fünf Kilo verloren hat, muss er inzwischen bei über 85 liegen“ – und das ist ein echter Ausnahmewert.

3. Training und Technik sind kein Tralala: Jeder spricht über das Ergebnis, also den optischen Eindruck und die gestoppten/errechneten Daten. Aber über die Faktoren (außer dem unterstellten Doping), wird kaum ein Wort verloren. Dabei dürfte ihr Einfluss alles andere als marginal sein.

Fakt ist, dass Sky einem Großteil der Konkurrenz in puncto Innovation voraus ist. Wochenlange Höhentrainingslager ganzer Teamteile sind Standard, eine umgekehrte Periodisierung, mit der das ganze Jahr über Topleistung abgerufen werden soll, eine Revolution für den in seine Traditionen verliebten Radsport.

Und nur ein kleines Beispiel: Als Sky einst bei der Dauphiné damit begann, seine Fahrer nach den Etappen noch auf die Rolle zu setzen, sorgte das für Belustigung in der Szene. Inzwischen ist es Standard. Aber wer kann sich an andere Tour-Sieger erinnern, die hinter dem Podium vor oder nach der Siegerehrung noch die Beine kreiseln ließen?

Ja, auch Armstrong führte oft seine modernen Methoden ins Feld. Aber der Teil seiner Erklärung wird nicht falsch, nur weil der Rest eine riesige Lüge war.

Und was ist eigentlich nun mit dem Spezial-Kettenblatt von Froome? Hokuspokus? Oder eben ein klarer Vorteil gegen die Konkurrenz, der aber nicht ins schwarz/weiß-Schema passt? Ich weiß nicht, warum nur sehr wenig andere Fahrer die Osymetric-Blätter nutzen. Ich weiß auch nicht, ob oder wieviel Watt sie zusätzlich bringen. Aber wenn ein Profi kritisch beäugt wird und es gibt einen so offensichtlichen Unterschied zum Material der Gegner, könnte da ja ein Teil der Erklärung liegen.

Denn, nur so am Rande: Viele präsentieren Antoine Vayer jetzt als Kronzeugen gegen Froome – der scharfzüngige Franzose liefert ja auch gerne knackige Aussagen. Aber er war es eben auch, der vor einem Jahr in den Raum stellte, dass die Sky-Asse just durch diese Kettenblätter zwischen 20 und 30 Watt im Vorteil sein könnten.

Dieses Jahr erwähnt er das nicht mehr: Aber in seinem eifrig zitierten Magazin zum Konzept der „Radarfallen" vermerkt er sehr wohl bei Froomes Daten, dass ein Osymetric-Einsatz die Werte beeinflusst haben könnte.

4. Rohdiamant wird geschliffen: Froomes Leistungsentwicklung ist ungewöhnlich, aber ein unaufgeregter Blick lässt sie nicht mehr ganz so wüst erscheinen. Als radsportlicher Spätzünder sind seine Leistungssprünge größer als bei gleichaltrigen Athleten, die schon seit Schülertagen ein professionelles Umfeld haben. Froome hat bei Fahrtechnik (im Peloton, auf der Zeitfahrmaschine, in Abfahrten) sehr viel lernen müssen - und sich dementsprechend aber auch stark gegenüber seinem Ausgangsniveau verbessert. Dass er nach Überwindung seiner Krankheit und einem Ende der häufigen Trainingspausen ein weiterer Leistungssprung möglich war, ist eigentlich wenig überraschend. Paart man das mit den außergewöhnlichen körperlichen Voraussetzungen und dem modernen und strukturierten Training, das bei Sky eben auch einem Durchschnittsfahrer wie Froome (und nicht wie anderswo nur den Stars) auf den Leib geschneidert wurde, hat man ein weiteres Element der Erklärung für seine Leistungssteigerung.

... und der X-Faktor?
Natürlich: All diesen Aspekten kann man auch nach Belieben noch den Einsatz von verbotenen Mitteln als weiteren Faktor hinzufügen. Und ja, es gibt sehr glaubwürdige Berichte, etwa der französischen Tageszeitung „Le Monde" darüber, wie auch bei dieser Tour übel & organisiert betrogen wird: Etwa unter Einsatz von Müllzerkleinerern, die aus Blutbeuteln „Kleinholz" machen, das sich unauffällig übers Klo entsorgen lässt.

Und natürlich zirkulieren Mittel, die noch nicht im Test auffindbar sind – gerade auch Substanzen, die einen schön dünn und mächtig kräftig machen. Da muss man nicht lange überlegen, welcher Fahrertyp das ist.

Aber Fakt ist auch: Jeder Fahrer weiß inzwischen, dass Nachtests inzwischen keine beiläufige Drohung mehr sind, sondern nicht nur im Radsport Betrüger dann eben mit Zeitverzögerung überführt werden.

Klartext vom Armstrong-Jäger
Ich habe keine endgültige Antwort - da muss ich wie schon in meinen anderen Beiträgen zum Thema Froome in den letzten Wochen enttäuschen. Aber wenn ich es mir nicht zu leicht machen will, kann ich Froome nicht einfach an den Pranger stellen. Möglich, dass er uns alle belügt. Aber es ist auch möglich, dass ihm eine große Ungerechtigkeit widerfährt. Ich bin weder sein Anwalt noch sein Ankläger, eher vielleicht etwas wie ein Schöffe. Und der ist auf Experten angewiesen, um sich sein Urteil zu machen.

Und damit wären wir bei David Walsh. Während 99% aller Wortmeldungen und Vorwürfe von Leuten kommen, die ebenso weit von Froome und Team Sky weg sind wie auch ich, hat er den Fahrer und das Team wochenlang begleitet – auch die ganze Tour. Hat hinter die Fassade geblickt, das Training erlebt, mit den Leuten gesprochen, die wir alle gerne in Ruhe befragen würden.

Gegen sein Urteil kann ich mich nicht stellen. Und Walsh „ist überzeugt, dass es bei Sky kein organisiertes Doping gibt", er "glaubt an Chris Froome" und wer ihn des Dopings anklagt „liegt falsch". Das ist mal Klartext.

Klar, werden jetzt mache sagen: Kein Team holt sich jemand ins Haus, der danach schlechte PR macht. Aber Achtung – dann geht man mit Walsh hohes Risiko ein. Der Brite hat sich nicht zwanzig Jahre an Armstrong abgearbeitet und mit viel Mut und Ausdauer dessen Betrug recherchiert, um seinen exzellenten Ruf durch so ein Projekt zu zerstören. Wenige Monate, nachdem er endlich vor aller Augen als Sieger aus dem bitteren Duell mit dem Texaner hervorging, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich ohne Not einem Team unkritisch um den Hals wirft. Auch wenn seine Sunday Times und der Sky-Konzern beide zur Murdoch-Gruppe zählen. Würde Fromme erwischt, wäre ich kaum überrascht und wenig enttäuscht. Würde sich Walsh als käuflich erweisen, wäre ich erschüttert.

Und sein Schlusswort zur Tour 2013 könnte deutlicher nicht sein und sollte jeden zumindest in Betracht ziehen lassen, dass das letzte Wort über Froome noch nicht gesprochen ist – aber in ganz anderer Weise als man denkt:

„Der Mob täuschte sich, als Armstrong siegte und der beliebteste Sportler des Planeten war. Und er täuscht sich jetzt, was Froome angeht. Die Geschichte wird das korrigieren, so wie sie es mit Armstrong auch getan hat."

Und was ist eigentlich mit der anderen Geschichte? Der des kleinen kolumbianischen Kletterers, der aus einfachsten Verhältnissen seinen Weg an die Spitze des Weltradsports macht – und am Ende sogar Froome am Berg kontern und abhängen kann?

Zu schön, um wahr zu sein?
Es bleibt spannend, auch nach der Tour.

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