Watterotts Lüttich-Bastogne-Lüttich-Retrospektive

Der schwerste Klassiker auf dem schönsten Kurs / Teil 1

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

24.04.2014  |  (rsn) - Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendsten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

Lüttich-Bastogne-Lüttich / Teil 1

Schon ein Jahr nach ihrer Gründung 1891 organisieren der Pesant Club Liègois und die Liège Cyclist’s Union zusammen die erste Ausgabe von Lüttich-Bastogne-Lüttich. Das neu geschaffene Rennen soll zunächst als Test für die schon länger geplante Marathonprüfung von Lüttich nach Paris und wieder zurück nach Lüttich über sage und schreibe 845 Kilometer dienen.

Die ersten beiden Ausgaben sind ausgeschrieben für Amateure, die dritte Austragung 1894 ist offen für Amateure und Einzelfahrer. Das Rennen, das durch den wallonischen Teil Belgiens führt, bekommt den liebevollen Beinamen „La Doyenne“, die Älteste. Alle anderen klassischen Eintagesrennen begannen zu einem späteren Zeitpunkt.

Viele Journalisten versuchen, mit Hilfe der blumenreichen französischen Sprache den Leuten in ihren Zeitungen das Rennen durch viele Details und Landschaftsschilderungen näher zu bringen. Und der Leser hat das Gefühl, es wäre die Beschreibung einer Urlaubsreise. Dabei ist Lüttich-Bastogne-Lüttich der schwerste Klassiker im Rennkalender. Und ohne zu prahlen ist es auch der schönste Kurs. Das älteste Rennen durchquert die Ardennen mit ihrem pittoresken Charme, ländlichem Dekor, und „La Doyenne“, die alte Dame des Radsports besitzt das Privileg durch die schönsten Wälder der Ardennen zu führen, zu einem Zeitpunkt, in dem die Natur im Frühling erwacht.

1892 – Lang, lang ist es her…
In dem für den Radsport so wichtigen Jahr verzeichnen wir zahlreiche andere große Ereignisse. Der berühmte englische Fußballclub FC Liverpool wird gegründet, der zurzeit in der englische Fußballmeisterschaft die Tabelle der Premier League anführt. Der legendäre Tiroler Bergsteiger Luis Trenker wird geboren. Der Amerikaner James J. Corbett erkämpft sich als zweiter Boxer die Weltmeisterschaft im Schwergewicht - und es ist das Geburtsjahr des belgischen Radrennfahrers Lucien Buysse aus Flandern, der 1926 die längste Tour de France in der Geschichte über 5.745 Kilometer gewinnt. In Paris hat er über eine Stunde Vorsprung vor dem Luxemburger Nicolas Frantz.

1892 – Premiere des ältesten Klassikers
Am Sonntag, den 29.Mai 1892, wird bei trockenem Wetter die erste Ausgabe von Lüttich-Bastogne-Lüttich auf den Terrassen der Avenue Rogier gestartet. Vor 300 Zuschauern werden um genau 5.39 Uhr und 44 Sekunden die gemeldeten 33 Amateur-Rennfahrer von Monsieur Neuman, dem Präsident der Lütticher Radfahrer-Union auf die Reise geschickt.

Die Distanz beträgt 250 Kilometer, reicht bis zur luxemburgischen Grenze nach Bastogne und durch die Ardennen wieder nach Lüttich. Die Strecke führt über Tilff, Esneux, Aywille, Barvaux, Hotton, Marche-en-Famenne, Champlon nach Bastogne und zurück. Wegen seines peinlich genauen Trainings und seiner leistungsstarken Muskulatur heißt der große Favorit Louis Rasquinet vom Sportclub Lüttich. Er trägt die Startnummer 13.

Von Beginn an ist die erste Austragung ein schnelles Rennen. Allen voran fährt Léon Houa aus Lüttich wie der Teufel, hat nach 76 Kilometer in Marche schon fünf Minuten Vorsprung vor Léon Lhoest und sieben Minuten vor Alphonse Hünnerbein aus Verviers. Bis zum Wendepunkt in Bastogne dehnt Houa seinen Vorsprung gegenüber Lhoest auf 36 Minuten aus.

Lhoest beklagt sechs mechanische Defekte und verliert viel Zeit. Houa, schon auf dem Rückweg nach Lüttich, sieht dabei seine Gegner weit zurück liegend auf der andern Straßenseite. Léon Houa drosselt das Tempo in Richtung Ziel und gewinnt am Ende mit 22 Minuten Vorsprung vor Léon Lhoest. Der Sieger kommt nach fast elf Stunden ohne einen einzigen Defekt ins Ziel – auf einem 11,6 Kilogramm schweren Rad.

Léon Houa hatte bis vier Monate vor seinem grandiosen Sieg im Eröffnungsrennen noch nie auf einem Rad gesessen. Er wiederholt seinen Erfolg auch in den beiden folgenden Jahren. Damit ist er neben seinem Landsmann Eddy Merckx und dem Italiener Moreno Argentin der Einzige, der in 122 Jahren dreimal nacheinander gewinnt. Danach wird er offiziell der erste Berufsfahrer Belgiens.

1908 – Erster ausländischer Sieg
Nach den drei Siegen von Léon Houa verschwindet das Rennen für lange Zeit vom Rennkalender, Automobil- und Motorradsport verdrängen den Radsport von der Spitze. Erst vierzehn Jahre später veranstaltet die Sportzeitung L’Express am letzten Sonntag im August wieder Lüttich-Bastogne-Lüttich, ein Rennen für Radrennfahrer und eins für motorisierte Fahrzeuge.

60 Fahrer starten vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung. Nach einem monotonen Rennverlauf gewinnt der Franzose André Trousselier, Bruder des berühmten Louis, mit fünf Radlängen Vorsprung vor dem Belgier Alphonse Lauwers und unterbietet nach über acht Stunden Fahrzeit mit einem Stundenmittel von 29 kmh die alte Bestmarke von Léon Houa um zwei Stunden.

1919 – Wiederbeginn und „Weltuntergangsstimmung“
Der Erste Weltkrieg mit insgesamt zehn Millionen Toten ist nach vier Jahren vorbei. Aber schon ein Jahr später, am 28.September 1919, plant der Pesant Club Liégois die Wiedergeburt von Lüttich-Bastogne-Lüttich. 32 mutige Rennfahrer starten bei strömendem Regen um acht Uhr. Der Regen wird immer stärker, dazu weht ein starker Wind die Fahrer fast von ihren Rennmaschinen. Totel durchnässt und mit klammen Fingern geben die ersten auf.

Um 12.04 Uhr, also nach vier Stunden, unterbrechen die Organisatoren endlich das Rennen in Bastogne am Wendepunkt und geben den Fahrern zwei Stunden Pause. Alle bekommen warme Mahlzeiten und heißen Tee, damit sie wieder „auftauen“. Auf dem Rückweg nach Lüttich schrumpft das Fahrerfeld immer mehr zusammen. Am späten Nachmittag wird es immer kälter und die Mitfavoriten Jean Rossius und Jacques Coomans kapitulieren vor der Kälte und steigen entkräftet in den Begleitwagen.

Der Mann mit der besten Kondition heißt Léon Devos und kommt aus Belgien. Wie im Unterbewusstsein spult er mühevoll die letzten Kilometer ab, erreicht in der hereinbrechenden Nacht vor einer Handvoll Zuschauer das Ziel und wird zur Legende der Ardennen. Nur sechs Gladiatoren erreichen nach heroischem Kampf das Ziel. Nach seiner Karriere siedelte Sieger Léon Devos sich im warmen Südfrankreich an. Er hat genug von der Kälte in Belgien.

1930 - Der erste deutsche Sieger
Ab diesem Jahr ist der Ardennenklassiker endgültig nur die Berufsfahrer reserviert. 50 Fahrer haben sich in die Teilnehmerliste eingetragen, aber nur 30 Profis gehen am 29.Mai an den Start, darunter als einziger Deutscher Hermann Buse aus Berlin. Bis zum Wendepunkt in Bastogne passiert nicht viel, das Feld bleibt kompakt und macht sich auf den Rückweg in Richtung Norden. An einer der zahlreichen Steigungen in Richtung Lüttich greift der Belgier Jean Debusschere an und bleibt bis zur Forges-Steigung vorne.

Doch dann fällt die Vorentscheidung. Mit den vier Belgiern Julien Vervaecke, Georges Laloup, François Gardier und Jean Wauters sowie dem Deutschen Hermann Buse schließen fünf Verfolger auf, lassen Debusschere stehen und machen den Spurt unter sich aus. Hermann Buse gewinnt den spannenden Sprint und rangiert im Tagesergebnis vor 16 Belgiern. Nur 17 Fahrer beenden das schwere Rennen. Buse ist seit 1892 erst der zweite Ausländer, der bei diesem Monument des Radsports siegreich bleibt. Vor ihm hatte nur 1908 der Franzose André Trousselier gewonnen.

Hermann Buse beendet noch im selben Jahr die Deutschland-Rundfahrt siegreich vor seinem Landsmann Kurt Stöpel. 1932 holt er sich beim Giro d’Italia die 2. Etappe von Vicenza nach Udine und trägt fünf Tage lang das Rosa Trikot des Spitzenreiters. Hermann Buse ist im Zweiten Weltkrieg als Soldat an der Front gefallen.

Teil 2 folgt.

Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 72-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.

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