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21.09.2015 | (rsn) - Mit leichter Verspätung, alle Anderen waren schon oben, stieg die kleine Kanadierin auf die Bühne zur Siegerehrung - an ihren Füßen nur noch Socken, mit Radschuhen wäre sie die Treppe jetzt wohl kaum mehr hinauf gekommen. Überhaupt: Dass Karol-Ann Canuel sich wieder so flüssig bewegte, durfte jeden wundern, der sie zehn Minuten zuvor mit bleichem Gesicht auf der Straße sitzen und liegen sah. Canuel hatte im wahrsten Sinne des Wortes ihre letzten Kräfte aus sich herausgeholt, um sich und ihren Kolleginnen von Velocio-SRAM den WM-Titel im Mannschaftszeitfahren zu ermöglichen.
„Es hat so weh getan! Ich wusste, dass es eng ist und habe einfach alles gegeben. Ich kann kaum glauben, wie hart ich gefahren bin", erklärte sie nach dem Rennen in der Mixed Zone. Canuel war die entscheidende vierte Frau im Team der Weltmeisterinnen, erst bei ihrem Überqueren der Ziellinie blieb die Uhr stehen.
Barbara Guarischi und Mieke Kröger hatten sich zuvor bereits verabschiedet, und so musste die 27-Jährige in der steilen Governor Street sowie auf der langen Zielgeraden über ihre Grenzen gehen - im Wissen, dass ihr Team zu Beginn des Anstiegs noch knapp hinter den großen Kontrahentinnen von Boels-Dolmans lag.
„Als ich oben nochmal beschleunigen wollte, hat mir Ronny per Funk gesagt, dass wir gerade unsere vierte Fahrerin verlieren", erklärte Brennauer. „Da mussten wir natürlich Tempo rausnehmen und versuchen, sie mitzunehmen." Canuel biss auf die Zähne und sich noch einige Sekunden an den Hinterrädern ihrer Teamkolleginnen fest, doch am Ende konnte sie nicht mehr mithalten und musste auf den letzten Metern der Zielgeraden endgültig abreißen lassen.
Mit allerletzter Kraft rollte sie etwa drei Sekunden nach Brennauer, Trii Worrack und Alena Amialiusik über den Zielstrich. Und trotzdem reichte es, um Boels-Dolmans im packenden Finale des Mannschaftszeitfahrens um sechs Sekunden zu bezwingen. „Ich bin fast von meinem Rad gefallen", erinnerte sich Canuel später an den Moment, als sie über die Ziellinie kam. „Ich hatte keine Ahnung, ob wir gewonnen haben oder nicht. Aber dann kam mein Freund und rief: Ihr habt es, Ihr habt es!"
Während Brennauer, Worrack und Amialiusik schon kurz nach dem Ziel gemeinsam und so ausgelassen wie nie jubelten, rollte Canuel wie in Trance vorbei, um die nächste Kurve und setzte sich dort im Schatten auf den Boden. „Ich bin so tief gegangen, dass mir schwindelig wurde und ich nichts mehr gesehen habe. Es hat lange gedauert, bis es mir besser ging", sagte sie später, schon wieder strahlend.
Das Glück, Weltmeisterin zu sein, ist größer als jeder Schmerz, den sie im Sattel auf dem Weg zum Titel fühlen musste. „Es gehört beides zusammen. Man muss sehr leiden, um die Medaille genießen zu können", so Canuel. „Jetzt bin ich sehr glücklich!"
Canuel in der Mixed Zone (Englisch):