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16.03.2016 | (rsn) - Am 23. Januar 2016 raste eine 73-jährige Britin in Calpe (Spanien) auf der falschen Straßenseite in die Trainingsgruppe um John Degenkolb (Giant-Alpecin). Gestern verkündete der Sieger der Monumente Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix, dem bei dem Horror-Unfall fast der linke Zeigefinger abgerissen und der Unterarm gebrochen wurde, dass er sich endlich wieder in den Sattel setzen darf!
"Die Reha ist gut verlaufen. Ich darf mit dem Comeback beginnen. Ich habe seit Montag das Okay der Ärzte, dass ich wieder auf dem Rad trainieren darf", verkündete er in einer Pressekonferenz in Oberursel bei Frankfurt, wo er er seit zwei Monaten wohnt.
"Es ist jetzt acht Wochen nach dem Unfall. Es war wirklich schrecklich", dachte er mit Grausen zurück. "Der Moment, in dem es passierte, war unwirklich. Eine Woche davor war ich noch in Roubaix gewesen und habe an der Strecke Material getestet. Ich war auch zu einer Ehrung geladen und bekam mein Namensschild, das ich in der Dusche (des Velodroms, d.Red.) neben den berühmten Namen anbringen durfte. Das war ein sehr emotionaler Moment für mich. Und dann erlebt man, wie schnell das Leben am seidenen Faden hängt", kann er den Crash im spanischen Trainingslager auch heute kaum glauben.
Der Giant-Kapitän hatte sich akribisch auf diese Saison vorbereitet, in der er seine beiden großen Titel verteidigen wollte, umso härter traf ihn das Unglück. Degenkolb: "Ich war sehr gut in Form, auf einem wirklich guten Weg. Und kurze Zeit später ist alles zerstört. Das ist wirklich sehr schwer zu akzeptieren und zu realisieren. Ich habe lange gebraucht, mit dieser Sitiation fertig zu werden. Jetzt bin ich in der Lage, das zu verstehen und darüber zu sprechen."
Fünf Operationen musste er seitdem über sich ergehen lassen. Ob er jemals wieder der alte werden wird, kann niemand vorhersagen. Degenkolb: "Ich muss den Therapeuten vertrauen und hoffen, dass alles gut wird." Erstmals sprach er im völlig überfüllten Hochzeitssaal des "Alten Brauhauses", in dem die Pressekonferenz stattfand, öffentlich über seine schlimmste Verletzung. "Der Finger war wirklich fast ab. Wir haben aber gute Ärzte und Chirurgen, die in der Lage sind, alles wieder an seinen Platz zu setzen", sagte er.
Dabei verriet er nicht, dass sogar eine Amputation des linken Zeigefingers erwogen wurde, um schneller wieder trainieren zu können. Doch so weit kam es zum Glück nicht. "Der Finger ist komplett wieder dran. Das ist auch der Grund, dass die Heilung bis jetzt gedauert hat. Der Knochen des Fingers war teilweise komplett zerstört. Deshalb musste mir ein Stück Knochen aus der Hüfte entnommen werden, um den Finger wieder zu reparieren. Wegen der Hüfte durfte ich so lange nicht trainieren. Wenn ich meine Familie zuhause nicht gehabt hätte, hätte ich diese Zeit nicht überstanden."
Immer wieder tauchten in dieser Zeit die Bilder des Unfalls in ihm auf. Degenkolb erzählte: "Es war ein schöner warmer Tag. Wir haben Sprints trainiert und waren auf dem Weg zurück ins Hotel. Wir waren zu siebt und fuhren zu zweit nebeneinander. In einer leichten Kurve kam uns in der Mitte der Straße ein Auto entgegen, dass immer weiter auf unsere Seite wechselte. Als es uns frontal traf, war es komplett auf unserer Straßenseite. Wir konnte rechts nicht ausweichen, weil dort Steine und Bäume waren. Die ersten sechs Personen wurden voll getroffen."
Überstanden ist der Unfall auch heute noch nicht. "Die Verletzungen beeinträchtigen mich immer noch. Die Verletzunge eines Fingers hat Auswirkungen auf die Hand bis zum Ellbogen. Außerdem hatte ich ja auch noch eine Unterarmfraktur. Die Brüche sind immer noch nicht ausgeheilt. Aber alles ist auf einem guten Weg. Wie gut der Finger und die Hand wieder hergestellt werden können, kann noch niemand vorhersagen", so Degenkolb.
Trotz der Umstände fühlt Degenkolb keinen Hass auf die Verursacherin des Unfalls. "Sie hat einen großen Fehler gemacht und dabei nicht nur mein Leben gefährdet sondern auch das meiner Kollegen. Es ändert aber nichts, wenn ich sauer auf sie bin. Ich muss akzeptieren, was passierte. Sie tat das nicht absichtlich", sagte er.
Über ihre Familie entschuldigte sich die Britin breits bei den Fahrern und beim Team. "Ihre Angehörigen teilten uns mit, dass sie unter Shock steht und sich schuldig fühlt." Trotzdem geht Giant-Alpecin gerichtlich gegen die Frau vor, weil das Team geschädigt wurde und einige Fahrer bis heute kein Rennen bestreiten können. "Aber dafür sind die Rechtsanwälte zuständig", sagte Degenkolb: "Ich kontentriere mich aufs Radfahren. Ich wurde durch den Unfall weit zurückgewofen und muss nun wieder bei Null anfangen. Diese Pressekonferenz ist sozusagen der Start dazu. Die Klassikersaison muss ich abhaken und ich werde mich jetzt auf mein zweites großes Saisonziel vorbereiten, das ist die Tour de France."
Wie es wird, wenn er wieder auf der Straße mit dem Rad unterwegs ist, weiß der Sprint- und Klassikerspezialist noch nicht. "Man sollte die mentale Problemtik nicht unterschätzen, aber bis jetzt habe ich noch keine Probleme gehabt. Ich durfte aber auch noch nicht trainieren. Nächste Woche kann ich darüber mehr sagen. Ich glaube, dass ich den Unfall auch mental gut verkraftet habe, weil ich viel darüber gesprochen habe. Ich glaube nicht, dass ich Angst davor habe, auf die Straße zurückzukehren."
Bei der Bewältigung der Geschehnisse hilft ihm auch die Gewissheit, dass der Vorfall überall hätte passieren können: "Wir haben einen gefährlichen Job und wissen, dass sich schnell alles ändern kann. Aber das war ein Verkehrsunfall. Wenn ich mit meiner Familie in einem kleinen Auto ohne Airbag unterwegs gewesen wäre, hätte es noch schlimmer ausgehen können."
Geduldig versucht Degenkolb sich nun auf sein Comeback vorzubereiten. Dabei will er sich auch nicht für sein Heimrennen in Frankfurt am 1. Mai unter Druck setzen, obwohl es eine Herzensangelegenheit für ihn ist, dort zu starten. Degenkolb: "Wenn alles normal läuft, brauche ich acht bis zehn Wochen. Vielleicht geht es auch schneller. Es ist nicht unmöglich, in Frankfurt zu starten. Das Rennen ist sehr wichtig für mich. Aber ich muss auf meinen Körper hören. Frankfurt ist nicht wichtiger als meine Gesundheit."
Dass er sich die beiden Monumente, die er 2015 gewonnen hat, nun nur vorm Fernseher verfolgen kann, schmerzt ihn zusätzlich. "Ich hatte die Chance, jeweils mit der Nummer 1 zu starten, jetzt nur zuschauen zu müssen, ist wirklich hart. Ich werde aber alles geben, um wieder auf den gleichen Level zu kommen. Denn ich würde lieber gegen Cancellara und Sagan Rennen fahren."
Seinen Nachfolger am Samstag in Sanremo hat er sich auch schon ausgeguckt: "Alle tippen auf Michael Matthews. Ich glaube aber an Alexander Kristoff."
Hier ein kleiner Ausschnitt der Degenkolb-Pressekonferenz im Eurosport-Video: