In Memoriam Fabio Casartelli

Die dunkelsten Stunden der Tour

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

22.07.2014  |  (rsn) - Nach dem zweiten Ruhetag steht am Dienstag die längste Etappe der diesjährigen Tour de France auf dem Programm. Das 16.Teilstück von Carcassonne nach Bagnères-de-Luchon ist 237,5 Kilometer lang und liefert die Kulisse für den ersten Schlagabtausch in den Pyrenäen.

Bei Kilometer 155 passieren die Fahrer und der gesamte Tour-Tross die Unglücksstelle am Portet d’Aspet, wo der Italiener Fabio Casartelli vor neunzehn Jahren, am 18. Juli 1995, zu Tode stürzte.

ARD-Reporter Herbert Watterott blickt als damaliger Augenzeuge noch einmal auf die schrecklichen Geschehnisse zurück.


Auf den 13.Juli 1967 hatte ich mich ganz besonders gefreut. Der legendäre Mont Ventoux, fast 2000 Meter hoch, war ein absolutes Highlight im Streckenprofil meiner damals dritten Tour de France als jüngstes Mitglied des ARD-Teams für Radio und Fernsehen. Ein imposantes Bild, wie dieser Riesenkegel aus der sonst eher flachen Landschaft der Provence in den Himmel ragt.

Vor 47 Jahren war ich als junger Reporter und Redakteur dabei, als das Drama um den Engländer Tom Simpson in den Kehren des Mont Ventoux begann. Der hagere, schmächtige Mann im britischen Trikot war ganz offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne und Muskeln. Der Weltmeister von 1965 fuhr im Zickzackkurs über den Asphalt und brauchte dazu die ganze Breite der Straße. Einige Hundert Meter bewegte er sich noch und erinnerte dabei an einen Betrunkenen.

Dann stand er plötzlich still und fiel zur Seite um. Helfer suchten vergeblich nach einer schattigen Stelle, wo Simpson wieder zu Kräften kommen konnte. Stattdessen hoben sie den völlig apathischen Fahrer noch einmal auf sein Rad, aber schon nach wenigen Metern brach er erneut zusammen. Diesmal verlor er völlig das Bewusstsein. Schlimmer noch: Weder die Mund-zu-Mund-Beatmung von Tour-Arzt Dr. Pierre Dumas noch die Wiederbelebungsversuche der Spezialisten im Sainte-Marthe-Hospital von Avignon waren erfolgreich. Tom Simpson war tot.

Später wurde bekannt, dass er Amphetamine als Aufputschmittel eingenommen hatte. Bei der Autopsie wurde außerdem Alkohol im Blut festgestellt. Die Hitze, der Berg, das Doping, der Alkohol – eine fatale Mischung, die Tom Simpson das Leben gekostet hatte. Félix Lévitan, der zweite Tour de France-Direktor neben Jacques Goddet, betrat gegen 18 Uhr den internationalen Pressesaal im Kloster von Carpentras und sprach sichtlich mitgenommen mit leiser Stimme: „Der Fahrer mit der Nr. 49, Tom Simpson aus Großbritannien, ist um 17.30 Uhr im Hospital gestorben.“

Der Tod hatte den Sport besucht. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Nach anfänglichem Zögern bemühte ich mich, Details für die Abendzusammenfassung des ARD-Berichtes zu recherchieren. Die Berichterstattung trat natürlich in den Hintergrund. Es lag Trauer über der Tour, genau das galt es auch nach Deutschland zu vermitteln.

Tom Simpson war der dritte Todesfall seit Beginn der Tour de France 1903. Der Franzose Adolphe Hélière aus Rennes in der Bretagne starb 1910 Ausgerechnet an einem Ruhetag. Er überlebte einen Badunfall im Mittelmeer bei Nizza nicht. 1935 stürzte der Spanier Francisco Cepeda bei Bourg d’Oisans in den Savoyer Alpen auf der Abfahrt in eine Schlucht, zog sich dabei einen Schädelbruch zu und starb drei Tage später am französischen Nationalfeiertag, dem 14.Juli, im Krankenhaus von Grenoble.

28 Jahre später sollte sich das nächste tragische Unglück bei der Tour de France ereignen. Am 18.Juli 1995 saß ich als Live-Reporter zusammen mit Jürgen Emig am Ziel in Cauterets, wo eine lange Pyrenäen-Etappe zu Ende gehen sollte. Es war ein strahlender Sonntag, ein großes Radsport-Volksfest fand im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien statt.

Die 15. Etappe von Saint Girons nach Cauterets begann stimmungsvoll und vielversprechend, wie 1967 die Etappe von Marseille über den Mont Ventoux. Und sie endete genauso tragisch. Dabei hatte ich mich auf diesen Tagesabschnitt ganz besonders gefreut. Endlich übertrugen wir einmal eine Bergetappe in voller Länge. Während so einer sechsstündigen Übertragung konnte man einmal richtig aus dem Vollen schöpfen, Geschichten erzählen über Rennfahrer, Land und Leute, über die Kultur und die Historie berichten und natürlich das aktuelle Renngeschehen schildern. Aber es sollte ganz anders kommen.

Wir saßen wie üblich im Ziel auf der großen Fernsehtribüne, wo die Kommentatorenplätze aufgebaut sind. Im Grunde genommen sehen die Kommentatoren bei der Arbeit genauso viel vom Rennen wie die Zuschauer zu Hause, nur dass deren Fernseher vermutlich um einiges größer und komfortabler sind als unsere kleinen Monitore. Wir sollten einen Tag erleben, an dem man besonders genau hinschauen musste, an dem ein besonderes Einfühlungsvermögen und eine sensible Einschätzung des Geschehens erforderlich waren.

Das Unglück geschah bei der Abfahrt vom Portet d’Aspet, die mit 17 Prozent Gefälle besonders steil ist. Alles ging blitzschnell. In einer Kurve wirbelte plötzlich Staub auf. Der Motorradfahrer mit dem Kameramann des französischen Fernsehens konnte gerade noch ausweichen und einen Zusammenprall verhindern. Um Sekundenbruchteile verpasste er mehrere Rennfahrer, die auf dem Asphalt lagen. Der Regisseur im Ü-Wagen bewies Fingerspitzengefühl und zeigte keine Nahaufnahmen. Aber die anderen Bilder reichten aus, um uns aus dem Reporteralltag einer normalen Etappe ins Unfassbare zu reißen.

Ein vielfacher Reporteraufschrei erschütterte die Tribüne: „Sturz, Crash, Chute, Caduta!“ Alle redeten durcheinander, die Kommentare überschlugen sich. Ich bemühte mich, die Situation zu erfassen, ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, meine Stimme stockte. Ich suchte nach den passenden Worten, um das Geschehen zu beschreiben. Jürgen Emig hatte sich schneller wieder im Griff, übernahm das Mikrofon und versuchte mit ruhiger Stimme die Zuschauer zu informieren.

Wir sahen Dirk Baldinger aus Deutschland im Straßengraben liegen. Es war uns sofort klar, dass er das Rennen nicht würde fortsetzen können. Später sollte sich herausstellen, dass er sich einen Beckenschaufelbruch zugezogen hatte. Der Belgier Johan Museeuw war ebenfalls gestürzt, hatte aber anscheinend nicht so schwere Verletzungen davongetragen.

Am schlimmsten erwischt hatte es einen Rennfahrer im blauen Trikot der Motorola-Mannschaft. An der Rückennummer erkannten wir den Italiener Fabio Casartelli, den Olympiasieger von Barcelona 1992. Er lag regungslos und zusammengekrümmt auf der Straße, während sich unter seinem Kopf eine immer größer werdende Blutlache bildete. Casartelli war mit dem Kopf auf eine Straßenbegrenzung aus Beton aufgeschlagen und hatte das Bewusstsein verloren.

Bei Tom Simpsons Tod 1967 hatte ich nicht am Mikrofon gesessen. Aber diesmal musste ich gemeinsam mit Jürgen Emig den Zuschauern erklären, dass mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. Allmählich trafen Informationen ein, die wir über den Tour-Funk erhielten, das Spezialradio für Renndirektion, Begleitfahrzeuge und Journalisten.

So ein dramatischer Unfall lässt niemanden kalt. Man kann sich der Trauer nicht entziehen, die über dem Rennen liegt. Nur sehr sparsam kommentierten Jürgen Emig und ich die Bilder der Etappe. Hier und da ein paar Worte zur Orientierung für die Zuschauer. Wir konnten ja nicht zur Tagesordnung übergehen, solange ein junger Sportler um sein Leben rang. Wir schauten uns an, verständigten uns mit Handzeichen und waren uns einig, nur das Nötigste zu erzählen. Währenddessen lief die Etappe weiter.

Ich verließ meinen Reporterplatz, lief in die erste Etage der Kommentatorentribüne, um mich bei den Hörfunkkollegen nach Neuigkeiten zu erkundigen. Aber hier oben wusste niemand etwas. Ich schaute nur in Gesichter, die genauso traurig und ratlos waren wie unsere. Der Tour-Funk lieferte nur noch spärliche Informationen über den Stand des Rennens. Der Franzose Richard Virenque lag seit Stunden allein in Führung. Wusste er von dem Unglück? Hatte sein Sportlicher Leiter ihn über den lebensgefährlichen Sturz eines Kollegen informiert? Ich vermutete eher nicht, weil er die Moral Virenques nicht schwächen wollte. Schließlich war ein prestigeträchtiger Etappensieg in den Pyrenäen zum Greifen nahe.

Auf der Tribüne kursierten inzwischen verschiedene Gerüchte über den Gesundheitszustand von Fabio Casartelli. Jürgen und ich waren uns einig, dass wir uns an diesen Spekulationen während der Sendung nicht beteiligen würden. Wir warteten auf seriöse Informationen und erhofften sie uns vor allem vom Tour-Funk. Der aber schwieg. Minuten wurden zu Stunden. Sollte sich die Tragödie vom 13.Juli 1967 wiederholen?

Normalerweise ist die Reportertribüne ein Ort mit einem lauten, aufgeregten Sprachgewirr. Jetzt aber herrschte eine lähmende Stille, als sich endlich der Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc zu Wort meldete. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, als er zu sprechen begann.

„Liebe Freunde des Radsports“, sagte Leblanc ganz ruhig. „Der Italiener Fabio Casartelli ist im Krankenhaus von Tarbes an den Folgen seiner Sturzverletzungen gestorben. Die zweistündigen Reanimationsversuche blieben erfolglos.“ Der Tour-Direktor hatte zuvor bereits mit den Eltern Sergio und Rosa sowie Annalisa, der jungen Frau Casartellis telefoniert und ihnen die erschütternde Nachricht überbracht.

Ich brauchte einen Moment, um weitersprechen zu können. Auch Jürgen Emigs Augen füllten sich mit Tränen. Jedes weitere Wort kam mir überflüssig vor. Die Zuschauer an den Fernsehapparaten benötigten jetzt keine langen Kommentare, sie waren selbst geschockt. Nach einer Pause verabschiedeten wir uns mit wenigen Worten vom jungen Rennfahrer Fabio Casartelli.

Was dann folgte, kann man am besten mit dem Wort „Chronistenpflicht“ zusammenfassen. Denn das Rennen ging weiter. Richard Virenque gewann tatsächlich die Etappe und riss vor Freude die Arme in die Höhe, als er das Ziel in Cauterets erreichte. Wir trauten unseren Augen kaum. Als er aber erfuhr, dass Fabio Casartelli verunglückt und gestorben war, bekam er einen Weinkrampf und verlor jede Freude an seinem Sieg. Den Tageserfolg widmete Virenque seinem verstorbenen Kollegen.

Empört waren die Reporter über das Verhalten der Organisatoren, die eine Siegerehrung durchführen ließen, als wäre nichts geschehen. Die knackigen Cheerleader-Mädchen von Coca-Cola kündigten wie immer mit fröhlichem Schwung die Rennfahrer an, die als beste des Tages zu ehren waren. Das war an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Ich verstand auch den großartigen Spanier Miguel Indurain nicht, der sich feiern ließ, als er das Gelbe Trikot des Gesamtführenden übergestreift bekam, als wäre nichts geschehen.

Etwas mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte Eddy Merckx sich noch in Luchon geweigert, das Gelbe Trikot anzuziehen, weil er es nur durch einen schweren Sturz des Spaniers Luis Ocaña, der mit einem Schlüsselbeinbruch ausscheiden musste, erobert hatte. „Diese Trikot gehört nicht mir“, sagte Merckx damals. Er ließ das Maillot Jaune ins Krankenhaus zu Luis Ocaña nach St. Gaudens bringen.

Aber für Sentimentalitäten ist längst kein Platz mehr bei der Tour de France. Es ist eben das härteste Radrennen der Welt. In jeder Hinsicht. Indurain betrat das Podium und winkte im Gelben Trikot ins Publikum. Nur wenige Stunden zuvor war einer seiner Berufskollegen ums Leben gekommen.

Ich hatte solch einen Augenblick in damals schon 30 Jahren Tour de France-Begleitung noch nicht erlebt. Entsetzen und Trauer waren die vorherrschenden Gefühle. Mit wenigen, wohlgewählten Worten das Richtige zu sagen – das war die Kunst dieser Stunde für uns, die wir an den Mikrofonen saßen.

Seit dem Todessturz steht an der Unglücksstelle am Portet d’Aspet ein Gedenkstein, der am 14.November 1995 enthüllt wurde, in Anwesenheit von Casartellis Frau Annalisa und seinem Sohn Marco.

Casartellis Vater Sergio sagt noch heute: „Der Juli ist für uns der schlimmste Monat im Jahr. Wenn die Tour de France läuft, dann kommen die grausamen Erinnerungen an Fabio zurück, die unser Leben verändert haben“.

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