Müllers Tour de Singkarak-Tagebuch

Ein paar Meter einen steinigen Abhang hinunter gestürzt

Von Robert Müller

Foto zu dem Text "Ein paar Meter einen steinigen Abhang hinunter gestürzt"
Robert Müller auf der 3. Etappe der Tour de Singarak | Foto: privat

08.11.2019  |  (rsn) - Hallo aus Sungai Penuh Sumatra, Indonesien! Auch wenn es mir gerade schwer fällt, werde ich auch heute meiner Chronistenpflicht nachkommen.

Abfahrt am Hotel war wieder um 7 Uhr, denn bereits um 9 Uhr fiel der Startschuss zur 6. Etappe über 214 Kilometer mit 3000 Höhenmetern und drei Bergwertungen der ersten Kategorie. Ich rechnete mit über sechs Stunden Renndauer für mich und da ich mir mittlerweile einen Husten und Schnupfen eingefangen habe und ich noch verdammt müde war, wollte ich den Tag einfach nur überleben.

Mein holländischer Freund Iwan erzählte mir am Start, dass er gestern bei der Bergankunft während des Rennens zweimal angehalten hätte, um Fotos von der tollen Aussicht auf den Vulkankratersee zu machen. Dazu habe ich auch schon öfter Lust gehabt, weil die Landschaft, durch die wir hier täglich fahren, einfach so malerisch ist. So auch heute wieder, besonders als wir zu Beginn der Etappe eine 50 Kilometer lange Runde um den schönen Singkarak-See, der Namensgeber der Rundfahrt ist, fuhren.

Wie bisher jeden Tag fuhr ich nach der Neutralisation die Startattacke mit, denn ich weiß bei meinem aktuellen Glück genau, dass wenn ich es einmal nicht tue, gleich die erste Gruppe fahren gelassen wird. Es wurde allerdings nichts und ich bekam auch schnell Atemprobleme, weil ich erstmal Schleim abhusten musste. Nach 5 Kilometern ließ Sapura eine erneut nur vier Fahrer starke Gruppe fahren. Das scheint ihre Formel für 200-km-Etappen zu sein; nicht mehr als vier Mann in der Spitzengruppe. Der Vorsprung wuchs schnell auf sechs Minuten und es hätte ein schöner Tag im Feld werden können.

Etwa nach 70 Kilometern begann der sehr lange Anstieg bis auf 1600 m hinauf zu zwei Bergseen. Er war zwar insgesamt nicht besonders steil und auch immer wieder von Flachstücken oder kurzen Abfahrten unterbrochen, aber einfach verdammt lang. Recht schnell bekam ich Atemprobleme, musste viel herum husten und wurde abgehängt. Außerdem spürte ich den Druckunterschied in meinen Ohren. Ich befand mich bald in einer acht Fahrer großen Gruppe und nach der ersten Bergwertung auf 1000 m sahen wir das Feld nicht weit vor uns.

Nach einer kurzen Abfahrt ging es weiter hinauf zur zweiten Bergwertung auf 1600 m und wir machten weiter Druck, um eventuell wieder heran fahren zu können, falls im Feld das Tempo heraus genommen werden würde. Nach der zweiten Bergwertung folgte nicht gleich die Abfahrt, sondern es ging auf der Höhe am schönen Diatas-See entlang. Wir bekamen widersprüchliche Angaben über unseren Rückstand, irgendwas zwischen zwei und vier Minuten. Kurz vor der langen Abfahrt hieß es dann, dass wir näher ans Feld heran kommen würden und Hoffnung keimte auf.

Ich kannte die nun folgende Abfahrt von den letzten beiden Jahren und wusste, dass die Straße besonders im oberen Teil sehr schlecht und verschmutzt sein würde und äußerste Vorsicht geboten war. Die ließ ich auch walten, trotzdem rutschte ich in einer engen Linkskurve weg, als ich am Kurvenausgang in den dort liegenden Sand geriet. Ich stürzte ein paar Meter einen steinigen Abhang hinunter, krabbelte jedoch mit meinem Rad in der Hand schnell wieder auf die Straße zurück. Lautstark fluchte ich vor mich hin und hatte eigentlich überhaupt keine Lust mehr, weiter zu fahren.

Trotzdem checkte ich erst mein Rad, dass noch voll funktionstüchtig war und dann erst mich selbst mit dem Befund, eingeschränkt funktionsfähig. Beide Ellenbogen, Unterarme, Knie und Hüften waren aufgeschürft und überall war Schmutz drin. Jemand fragte mich, ob ich weiterfahren wolle und ich bejahte, obwohl ich eigentlich nicht wollte. Also schwang ich mich wieder auf mein Rad, an dem erstaunlicherweise alles tadellos funktionierte, und eierte wie eine Oma weiter die Abfahrt hinunter. Auf meinem Tacho sah ich, dass es noch 90 Kilometer bis ins Ziel waren, inklusive eines weiteren 10 Kilometer langen Anstiegs. Ich war mutterseelenallein und Hilfe war von nirgendwo zu erwarten.

An dieser Stelle verzichte ich darauf, mein Leiden und meine Gedanken der nun folgenden mehr als zweieinhalb Stunden auszubreiten. Die meisten regelmäßigen Leser meiner Tagebücher werden sich wahrscheinlich sowieso schon denken “der Typ wird ständig abgehängt, legt sich dauernd auf die Fresse und bemitleidet sich selbst, was kann der eigentlich?“ Die Frage ist nicht unberechtigt und ich stelle sie mir in letzter Zeit selber immer öfter. Diese Saison bekomme ich einfach nichts auf die Reihe und es läuft viel zu viel schief.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich dann doch noch völlig fertig im Ziel an und flüchtete vor den Menschenmassen in unseren Bus, wo ich mich verschwitzt, verschmutzt und blutig wie ich war auf den Boden legte und nicht mehr aufstehen wollte. Da sonst niemand da war, lag ich dort trotz Hunger und Durst eine Zeitlang komatös herum und schlief fast ein. Als mich schließlich doch jemand entdeckte, raffte ich mich mühsam auf und suchte im Zielbereich nach Sanitätern. Nachdem ich endlich fündig geworden war, wies ich sie an, meine Wunden zu säubern und sie fuhrwerkten unsanft darin herum, was sehr schmerzhaft war.

Auf dem Weg zurück zum Bus ging ein Wolkenbruch nieder und ich kam dort klatschnass für den nun folgenden dreistündigen Transfer an. Auf diesen elendigen Transfers nach jeder Etappe schreibe ich stets dieses Tagebuch, während alle anderen schlafen. Nun bekam ich auch mit, dass ich mit 36 Minuten Rückstand ungefährdet innerhalb des etwa einstündigen Zeitlimits das Ziel erreicht hatte, obwohl die letzten 90 Kilometer bei mir nichts mehr mit Radrennen fahren zu tun hatten. Ich habe mich also ordentlich gequält, um mich morgen wieder quälen zu dürfen, ziemlich dämlich eigentlich.

Da Aufgeben keine Option ist, werde ich genau das auch tun. Sorge bereitet mir allerdings mein rechtes Knie, das besonders zum Ende hin immer heftiger geschmerzt hat. Zum Glück steht morgen ein halber Ruhetag an, weil der Start aufgrund des muslimischen Freitagsgebets erst um 14 Uhr erfolgt und die Etappe nur 83 Kilometer lang ist. Leider gibt es gleich am Anfang die erste Bergwertung und wenn dort Vollgas gefahren wird, sehe ich schwarz für mich, denn das Zeitlimit beträgt nur 12 Prozent und die Etappe wird wohl unter zwei Stunden gefahren.

Eben fällt mir wieder ein, dass ich heute Morgen, als ich vorm Start auf einem versifften Klo zum Hinhocken mein Geschäft erledigte, eine dicke Kakerlake zu meinen Füßen beobachtete. Sie lag auf dem Rücken und strampelte mit allen Beinen wild um sich, kam jedoch nicht mehr auf die Füße. Ich dachte darüber nach, dass Kakerlaken ja eigentlich Überlebenskünstler sind und z.B. noch eine Woche ohne eigenen Kopf überleben können, aber bereits ein großes Problem haben, wenn sie einmal auf dem Rücken liegen. Ich half ihr jedenfalls nicht und überließ sie ihrem Schicksal. Vielleicht habe ich jetzt die Strafe dafür bekommen, indem ich mich nun selbst so fühle wie diese Kakerlake?

Ich konnte diesen Bericht gestern nicht mehr schicken, da es am Abend noch eine böse Überraschung gab. Nachdem wir in der Lobby eines Hotels herumgelungert hatten, wurde uns gesagt, dass es das falsche sei und wir fuhren woanders hin. Dort kamen wir dann um 21 Uhr an einem halbfertigen „Hotel“ an, das mehr ein nicht ausgebauter Rohbau war. Es gab weder Wasser, noch Internet oder Bettlaken. Also konnten wir weder duschen, noch unsere Radklamotten waschen. Aber wer braucht schon eine Dusche nach einem über sechsstündigen Radrennen, bei dem er in den Dreck gestürzt ist?

Radfahrzeit: 6:40 h

Transferzeit: 4:15 h

Souvenir des Tages: Modell eines traditionellen Hauses im Glaskasten

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle.

Gez. Sportfreund Radbert

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