Müllers Tour de Singkarak-Tagebuch

Die Überquerung des Zielstrichs als spirituelle Erfahrung

Von Robert Müller

Foto zu dem Text "Die Überquerung des Zielstrichs als spirituelle Erfahrung"
Robert Müller | Foto: privat

10.11.2019  |  (rsn) - Hallo aus Padang, Sumatra, Indonesien! Gestern Abend gab es in unserem Hotel tatsächlich spärlich Wasser, doch ich verzichtete erneut auf eine Dusche, da ich keine Lust auf die Schmerzen in meinen Wunden hatte, wenn sie nass werden würden. Mittlerweile krieche ich auf dem Zahnfleisch und kümmere mich nur noch darum, meine absoluten Grundbedürfnisse zu erfüllen - und duschen gehört nicht dazu. Nach einer weiteren beschissenen Nacht gab es wieder nur ein dürftiges Frühstück. Aus einer Wunde an meinem rechten Knie lief blutiger Eiter heraus und als ich etwas darauf herumdrückte, kam noch deutlich mehr.

Das einzig Erfreuliche an diesem Morgen war, dass wir uns zum ersten Mal nicht in den Bus quetschen mussten, sondern die drei Kilometer zum Start mit dem Rad fahren konnten. Da wir eineinhalb Stunden vorher los fuhren, waren wir viel zu früh da und der Meute, die uns wie immer mit Fotowünschen belagerte, schutzlos ausgeliefert. Es ist ja eigentlich schön, diese Begeisterung der Menschen zu sehen, aber mittlerweile nervt es mich leider nur noch und ich weiß es wieder zu schätzen, wenn sich bei Radrennen in Deutschland niemand für einen interessiert.

Die heutige 8. Etappe führte über 213 Kilometer und nach 29 Kilometern stand eine Bergwertung der hors categorie an. Ich wusste, dass ich diese in meinem Zustand nicht überleben würde und gab mir eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 20 Prozent, die Etappe überhaupt beenden zu können. Zu toppen wäre es nur noch, wenn ich es auch innerhalb des Zeitlimits von heute 18 Prozent schaffen würde. Die Kulisse am Start mit den Zuschauermassen war beeindruckend und es kreisten nicht weniger als sechs Drohnen über uns in der Luft.

Nach der Neutralisation ging es zum Glück nicht so schnell los wie gestern und ich stellte erfreut fest, dass meine Knieschmerzen etwas besser geworden waren. Dafür war allerdings schon in der Nacht mein Husten schlimmer geworden. Das einzige System, das bei mir noch gut funktioniert, ist meine Verdauung und das hält mich auch am Leben, da ich somit genug essen kann, um den enormen Energiebedarf halbwegs zu decken. Dafür bin ich meinem Körper sehr dankbar.

Nach ein paar Kilometern wurde eine kleine Gruppe weggelassen und bei mir keimte etwas Hoffnung auf, dass wir im Feld den langen Anstieg regulare fahren würden. Doch die beiden philippinischen Continental Teams „7-Eleven“ und „Go for Gold“ bekämpfen sich noch um das Bergtrikot und machten meine Hoffnungen schnell zu Nichte. Ich bekam einen Hustenanfall, konnte schlecht atmen und wurde 200 Kilometer vor dem Ziel abgehängt. Trotzdem fuhr ich alleine so schnell wie es eben ging weiter bis zur Bergwertung, wo ich bereits aus der Kolonne gefallen war.

Auf der sehr langen und kurvigen Abfahrt von 1400  Metern Höhe bis hinunter ans Meer durch dichten Regenwald fuhr ich sehr vorsichtig. Wozu noch etwas riskieren, wenn ich sowieso hoffnungslos verloren war? Es fiel mir schwer, mich ausreichend zu konzentrieren, da ich wegen meines enormen Schlafdefizits sehr müde war. Allerdings waren meine Hände das einzige, was regelmäßig einschlief. Ich eierte durch die Gegend, hatte bei jedem Schlagloch, Wasserfleck und Steinchen auf der Straße Angst und bremste viel zu viel. Dadurch verlor ich sicher viel Zeit auf das Feld, statt wie normalerweise in Abfahrten Zeit gut zu machen.

Als ich endlich unten angekommen war, hatte ich ordentlich Druck auf den Ohren und war fast taub. Ich nahm mir vor, noch bis Kilometer 100 weiterzumachen und dann auszusteigen. Obwohl ich versuchte, noch vernünftig zu fahren, wurde ich immer langsamer und konnte schließlich nur noch 35 km/h fahren, mehr ging beim besten Willen einfach nicht. Nachdem ich 100 Kilometer geschafft hatte, waren meine beiden kleinen Flaschen geleert und ich komplett trocken gelaufen: Zeit auszusteigen. Just in diesem Moment überholte mich wie aus dem Nichts der kleine Iraner, der die letzten zwei Nächte mit uns in dem Horrorhotel war.

Wir kannten uns flüchtig von einigen Rundfahrten und wechselten immer wieder ein paar Sätze, so auch jetzt. Ich fragte ihn, ob er durchfahren wolle und er bejahte, das Zeitlimit würde bei etwa einer Stunde liegen und gemeinsam könnten wir es schaffen. Er sagte mir noch, Wasser würde es vom Besenwagen direkt hinter uns geben. Der wäre auch die Alternative gewesen, wenn ich jetzt ausstiege. Mehr als 100 Kilometer würde ich dann im Besenwagen sitzend hinter dem Iraner her fahren müssen, war es da nicht vielleicht sogar besser, auf dem Rad zu bleiben?

Immerhin hatte ich mutmaßlich ausreichend Verpflegung dabei, Wasser in den Flaschen, war nicht allein und konnte trotz allem noch fahren, wenn auch nicht schnell. Also fasste ich den Entschluss, mit dem Iraner gemeinsam bis ins Ziel zu fahren, komme was da wolle. Wir wechselten uns gut ab, verpflegten uns regelmäßig und hatten sogar einen Motorrad-Marshall vor uns, der uns den Verkehr und die Tiere (Kühe, Ziegen, Hunde, Hühner) auf der Küstenstraße so gut es ging vom Hals hielt. Trotzdem mussten wir sehr aufmerksam sein, um allen Hindernissen rechtzeitig auszuweichen.

Es war sehr hart, denn man darf sich das nicht so vorstellen, dass man gemütlich fahren würde, wenn man abgehängt vor dem Besenwagen her um die Karenzzeit fährt. Man gibt alles, was man in seinem miserablen Zustand eben noch kann, auch wenn das nicht mehr viel ist. Immerhin war die Szenerie schön, auch wenn es sich unendlich dahin zog und meine Beine nur noch schmerzende Klumpen waren. Als wir endlich die 15-Kilometer-Marke erreicht hatten, ging es in den Anstieg zur letzten Bergwertung und ich spürte, dass ich dem Hungerast und einem Kollaps nahe war.

Nach der Abfahrt bat mich mein Begleiter, die letzten 10 Kilometer von vorne zu fahren, da er nicht mehr könne. Aber natürlich, gerne doch! Ich motivierte mich damit, es noch innerhalb von sechs Stunden Fahrzeit ins Ziel zu schaffen und es gelang mir gerade so. Der Zielstrich war dann eine unglaubliche Erlösung, es war fast eine spirituelle Erfahrung, endlich von meinen Leiden befreit zu werden. Ich steuerte den Bus an und legte mich wieder hinten zwischen die schon eingeladenen Räder der anderen. Es war dieses Jahr einer der härtesten Tage auf dem Rad.

Langsam kam ich wieder zu Sinnen, zog mir die verschwitzten Radklamotten aus und andere verschwitzte Klamotten an, denn saubere Kleidung gehört ebenfalls nicht zu meinen Grundbedürfnissen. Wir müssen hier alles selber von Hand waschen und dafür habe ich keine Kapazitäten mehr frei. Für Essen hingegen schon, und so verschlang ich erst mal eine Portion Nasi Goreng und was ich sonst noch in die Finger bekam. Dann startete auch schon der über zweistündige Transfer zum zunächst falschen Hotel. Dabei bekam ich mit, dass ich es doch wieder im Zeitlimit geschafft hatte, diesmal um 27 Sekunden. Es ist nicht zu fassen.

Am richtigen Hotel angekommen hieß es dann, wir müssten zum Abendessen eine weitere Viertelstunde zu einem anderen Hotel fahren. Da es bereits 19:30 Uhr war, musste die überfällige Dusche noch warten, denn Essen ist wichtiger. Peter wurde heute 12., Loic 30. und verteidigte seinen vierten Gesamtplatz. Meine beiden Teamkollegen aus Singapur sind beide in der langen Abfahrt gestürzt und einer hatte danach noch einen Platten. Weil er sich dann vom Teamauto ziehen ließ, um wieder in seine Gruppe zu kommen, wurde er von einem Kommissär disqualifiziert und musste in den Besenwagen steigen.

Morgen steht also endlich die neunte und letzte Etappe an und es geht über läppische 108 Kilometer an der Küste entlang. Dort ist es allerdings nicht flach und es warten drei Bergwertungen auf uns. Da zwei philippinische Fahrer aus den beiden heimischen Teams in der Bergwertung nur um zwei Punkte auseinander liegen, wird es darum nochmal einen harten Kampf geben. Ich kann nur hoffen, dass sie ihn vorne in einer Gruppe austragen und nicht aus dem Feld heraus. So oder so werde ich alles, was meine Beine noch hergeben, heraus quetschen müssen, denn jetzt will ich die Rundfahrt auch beenden.

Radfahrzeit: 6:48 h

Transferzeit: 2:45 h

Souvenir des Tages: wieder keine Ahnung

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle.

Gez. Sportfreund Radbert

Mehr Informationen zu diesem Thema

10.11.2019Kein Mangel an Pleiten, Pech und Pannen, Leid und Schmerz

(rsn) - Hallo aus Padang, Sumatra, Indonesien! Ich habe es tatsächlich bis zur letzten Etappe geschafft und darf/muss heute noch ein letztes Mal in diesem Jahr zu einem Radrennen starten. Am Morgen

08.11.2019Verdammt! Ich bin doch noch im Rennen

(rsn) - Hallo aus Sungai Penuh, Sumatra, Indonesien! Nach einer schlechten Nacht wachte ich wie gerädert auf und fühlte mich wie dreimal vom Bus überfahren. Es gab immer noch kein Wasser im „Hot

08.11.2019Ein paar Meter einen steinigen Abhang hinunter gestürzt

(rsn) - Hallo aus Sungai Penuh Sumatra, Indonesien! Auch wenn es mir gerade schwer fällt, werde ich auch heute meiner Chronistenpflicht nachkommen. Abfahrt am Hotel war wieder um 7 Uhr, denn bereit

06.11.2019Facebook-Video rettete Loics 3. Platz, aber Kelok 44 war zu viel

(rsn) - Hallo aus Batusangkar Sumatra, Indonesien! Nachtrag zu gestern: da Loic ja wie berichtet 500 m vor dem Ziel gestürzt war, greift in diesem Fall die 3-km-Regel, er bekommt also die gleiche Ze

05.11.2019Meine Position auf dem Rad fühlte sich irgendwie falsch an

(rsn) - Hallo aus Batusangkar Sumatra, Indonesien! Um 5 Uhr klingelte heute der Wecker und als ich aufstand, fühlte ich mich ziemlich steif, besonders an meiner lädierten Schulter und im Nacken. Be

04.11.2019Es läuft einfach nicht rund

(rsn) - Hallo aus Batusangkar Sumatra, Indonesien! Heute Morgen wurden wir um sechs Uhr unsanft geweckt und uns wurde mitgeteilt, dass sich die Abfahrtszeit vom Hotel auf 7 Uhr statt ursprünglich 7:4

03.11.2019Nach vergeblicher Verfolgung stand ich wie ein Eimer auf der Kuppe

(rsn) - Hallo aus Batusangkar Sumatra, Indonesien! Nachtrag zu gestern: da wir zum Abendessen in ein anderes Hotel fahren mussten, verlängert sich die Transferzeit von gestern um eine halbe Stunde au

02.11.2019Akzeptiert, dass es heute nichts werden würde

(rsn) - Hallo aus Bukittinggi, Sumatra, Indonesien! Heute ging es also mit einer relativ kurzen Etappe über 107 km endlich los. Wir starteten nach einem eineinhalbstündigen Transfer direkt am Stran

01.11.2019Es stehen uns sehr lange Tage bevor

(rsn) - Hallo aus Padang, Sumatra, Indonesien! Ich begrüße euch zu meinem bereits siebten Tagebuch in diesem Jahr auf radsport-news.com! Begonnen hatte ich Anfang Februar bei der Ronda Pilipinas, m

Weitere Radsportnachrichten

25.12.2024Kräftezehrendes Jahr mit zwei Grand Tours

(rsn) – Die Ambitionen von Felix Gall (Decathlon – AG2R La Mondiale) waren vor dem Jahr 2024 berechtigter Weise groß. Denn der Österreicher konnte auf eine erfolgreichste Saison zurückblicken,

25.12.2024Alles offen nach einer erfolgreichen Saison

(rsn) - Das Resümee ihrer ersten vollständigen Profi-Saison dürfte durchweg positiv für die Schweizerin Elena Hartmann vom Team Roland ausgefallen sein. Erst vor zwei Jahren gelang der inzwischen

25.12.2024Traum erfüllt und doch unzufrieden

(rsn) – Es gibt durchaus einfachere Aufgaben als die Saison 2024 von Pascal Ackermann zu bewerten. Auch er selbst ist da ein wenig zwiegespalten. Schließlich hat er es mit dreißigeinhalb Jahren en

25.12.2024Meistertitel das Highlight im insgesamt bislang besten Jahr

(rsn) - Die abgelaufene Saison wird Franziska Koch vom Team dsm-firmenich - PostNL wohl noch länger in Erinnerung bleiben - war es doch mit Abstand ihre erfolgreichste, seit sie im Jahr 2019 beim Tea

25.12.2024Auch Colombo und vier Kollegen verlassen Q36.5

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

25.12.2024Im Überblick: Die Transfers der Männer-Profiteams für 2025

(rsn) – Nachdem zahlreiche Transfergerüchte seit Monaten in der Radsportwelt zirkulieren, dürfen die Profimannschaften seit dem 1. August ihre Zu- und Abgänge offiziell bekanntgeben. Radsport

25.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Frauen 2024

(rsn) - Wie bei den Männern so blicken wir traditionell am Jahresende auch auf die Saison der Frauen zurück und stellen die besten 15 Fahrerinnen unserer Jahresrangliste vor. Wir haben alle UCI-Ren

25.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Männer 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

24.12.2024Der größte Sieg war jener über Long-Covid

(rsn) – Es war eine Saison voller Höhen und Tiefen für Marlen Reusser (SD Worx – Protime), wobei vor allem in der zweiten Saisonhälfte die Tiefe übernahm – und zwar komplett. Denn die Schwe

24.12.2024Top-Sprinter mit starkem Sinn für Realismus

(rsn) - Mit zwei Siegen und insgesamt 21 Top-Ten-Resultaten bei UCI-Rennen zeigte Phil Bauhaus (Bahrain Victorious) auch 2024, dass er zu den schnellsten Männern im Feld zählt. Mit seiner Saison w

24.12.2024Mit 36 Jahren noch immer einer der Besten

(rsn) – Seit vielen Jahren gehört Riccardo Zoidl (Felt – Felbermayr) zu den absolut besten Fahrern Österreichs. 2013 erlebte er seinen absoluten Durchbruch, wo er sich mit zahlreichen Rundfahrts

24.12.2024Hamilton bricht sich das Schlüsselbein bei Trainings-Crash

(rsn) – Chris Hamilton, Tim Naberman und Oscar Onley sind am letzten Tag des Dezember-Trainingslagers des Teams dsm-firmenich – PostNL, das ab Januar Picnic – PostNL heißen wird, gestürzt. Wä

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine