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10.11.2019 | (rsn) - Hallo aus Padang, Sumatra, Indonesien! Gestern Abend gab es in unserem Hotel tatsächlich spärlich Wasser, doch ich verzichtete erneut auf eine Dusche, da ich keine Lust auf die Schmerzen in meinen Wunden hatte, wenn sie nass werden würden. Mittlerweile krieche ich auf dem Zahnfleisch und kümmere mich nur noch darum, meine absoluten Grundbedürfnisse zu erfüllen - und duschen gehört nicht dazu. Nach einer weiteren beschissenen Nacht gab es wieder nur ein dürftiges Frühstück. Aus einer Wunde an meinem rechten Knie lief blutiger Eiter heraus und als ich etwas darauf herumdrückte, kam noch deutlich mehr.
Das einzig Erfreuliche an diesem Morgen war, dass wir uns zum ersten Mal nicht in den Bus quetschen mussten, sondern die drei Kilometer zum Start mit dem Rad fahren konnten. Da wir eineinhalb Stunden vorher los fuhren, waren wir viel zu früh da und der Meute, die uns wie immer mit Fotowünschen belagerte, schutzlos ausgeliefert. Es ist ja eigentlich schön, diese Begeisterung der Menschen zu sehen, aber mittlerweile nervt es mich leider nur noch und ich weiß es wieder zu schätzen, wenn sich bei Radrennen in Deutschland niemand für einen interessiert.
Die heutige 8. Etappe führte über 213 Kilometer und nach 29 Kilometern stand eine Bergwertung der hors categorie an. Ich wusste, dass ich diese in meinem Zustand nicht überleben würde und gab mir eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 20 Prozent, die Etappe überhaupt beenden zu können. Zu toppen wäre es nur noch, wenn ich es auch innerhalb des Zeitlimits von heute 18 Prozent schaffen würde. Die Kulisse am Start mit den Zuschauermassen war beeindruckend und es kreisten nicht weniger als sechs Drohnen über uns in der Luft.
Nach der Neutralisation ging es zum Glück nicht so schnell los wie gestern und ich stellte erfreut fest, dass meine Knieschmerzen etwas besser geworden waren. Dafür war allerdings schon in der Nacht mein Husten schlimmer geworden. Das einzige System, das bei mir noch gut funktioniert, ist meine Verdauung und das hält mich auch am Leben, da ich somit genug essen kann, um den enormen Energiebedarf halbwegs zu decken. Dafür bin ich meinem Körper sehr dankbar.
Nach ein paar Kilometern wurde eine kleine Gruppe weggelassen und bei mir keimte etwas Hoffnung auf, dass wir im Feld den langen Anstieg regulare fahren würden. Doch die beiden philippinischen Continental Teams „7-Eleven“ und „Go for Gold“ bekämpfen sich noch um das Bergtrikot und machten meine Hoffnungen schnell zu Nichte. Ich bekam einen Hustenanfall, konnte schlecht atmen und wurde 200 Kilometer vor dem Ziel abgehängt. Trotzdem fuhr ich alleine so schnell wie es eben ging weiter bis zur Bergwertung, wo ich bereits aus der Kolonne gefallen war.
Auf der sehr langen und kurvigen Abfahrt von 1400 Metern Höhe bis hinunter ans Meer durch dichten Regenwald fuhr ich sehr vorsichtig. Wozu noch etwas riskieren, wenn ich sowieso hoffnungslos verloren war? Es fiel mir schwer, mich ausreichend zu konzentrieren, da ich wegen meines enormen Schlafdefizits sehr müde war. Allerdings waren meine Hände das einzige, was regelmäßig einschlief. Ich eierte durch die Gegend, hatte bei jedem Schlagloch, Wasserfleck und Steinchen auf der Straße Angst und bremste viel zu viel. Dadurch verlor ich sicher viel Zeit auf das Feld, statt wie normalerweise in Abfahrten Zeit gut zu machen.
Als ich endlich unten angekommen war, hatte ich ordentlich Druck auf den Ohren und war fast taub. Ich nahm mir vor, noch bis Kilometer 100 weiterzumachen und dann auszusteigen. Obwohl ich versuchte, noch vernünftig zu fahren, wurde ich immer langsamer und konnte schließlich nur noch 35 km/h fahren, mehr ging beim besten Willen einfach nicht. Nachdem ich 100 Kilometer geschafft hatte, waren meine beiden kleinen Flaschen geleert und ich komplett trocken gelaufen: Zeit auszusteigen. Just in diesem Moment überholte mich wie aus dem Nichts der kleine Iraner, der die letzten zwei Nächte mit uns in dem Horrorhotel war.
Wir kannten uns flüchtig von einigen Rundfahrten und wechselten immer wieder ein paar Sätze, so auch jetzt. Ich fragte ihn, ob er durchfahren wolle und er bejahte, das Zeitlimit würde bei etwa einer Stunde liegen und gemeinsam könnten wir es schaffen. Er sagte mir noch, Wasser würde es vom Besenwagen direkt hinter uns geben. Der wäre auch die Alternative gewesen, wenn ich jetzt ausstiege. Mehr als 100 Kilometer würde ich dann im Besenwagen sitzend hinter dem Iraner her fahren müssen, war es da nicht vielleicht sogar besser, auf dem Rad zu bleiben?
Immerhin hatte ich mutmaßlich ausreichend Verpflegung dabei, Wasser in den Flaschen, war nicht allein und konnte trotz allem noch fahren, wenn auch nicht schnell. Also fasste ich den Entschluss, mit dem Iraner gemeinsam bis ins Ziel zu fahren, komme was da wolle. Wir wechselten uns gut ab, verpflegten uns regelmäßig und hatten sogar einen Motorrad-Marshall vor uns, der uns den Verkehr und die Tiere (Kühe, Ziegen, Hunde, Hühner) auf der Küstenstraße so gut es ging vom Hals hielt. Trotzdem mussten wir sehr aufmerksam sein, um allen Hindernissen rechtzeitig auszuweichen.
Es war sehr hart, denn man darf sich das nicht so vorstellen, dass man gemütlich fahren würde, wenn man abgehängt vor dem Besenwagen her um die Karenzzeit fährt. Man gibt alles, was man in seinem miserablen Zustand eben noch kann, auch wenn das nicht mehr viel ist. Immerhin war die Szenerie schön, auch wenn es sich unendlich dahin zog und meine Beine nur noch schmerzende Klumpen waren. Als wir endlich die 15-Kilometer-Marke erreicht hatten, ging es in den Anstieg zur letzten Bergwertung und ich spürte, dass ich dem Hungerast und einem Kollaps nahe war.
Nach der Abfahrt bat mich mein Begleiter, die letzten 10 Kilometer von vorne zu fahren, da er nicht mehr könne. Aber natürlich, gerne doch! Ich motivierte mich damit, es noch innerhalb von sechs Stunden Fahrzeit ins Ziel zu schaffen und es gelang mir gerade so. Der Zielstrich war dann eine unglaubliche Erlösung, es war fast eine spirituelle Erfahrung, endlich von meinen Leiden befreit zu werden. Ich steuerte den Bus an und legte mich wieder hinten zwischen die schon eingeladenen Räder der anderen. Es war dieses Jahr einer der härtesten Tage auf dem Rad.
Langsam kam ich wieder zu Sinnen, zog mir die verschwitzten Radklamotten aus und andere verschwitzte Klamotten an, denn saubere Kleidung gehört ebenfalls nicht zu meinen Grundbedürfnissen. Wir müssen hier alles selber von Hand waschen und dafür habe ich keine Kapazitäten mehr frei. Für Essen hingegen schon, und so verschlang ich erst mal eine Portion Nasi Goreng und was ich sonst noch in die Finger bekam. Dann startete auch schon der über zweistündige Transfer zum zunächst falschen Hotel. Dabei bekam ich mit, dass ich es doch wieder im Zeitlimit geschafft hatte, diesmal um 27 Sekunden. Es ist nicht zu fassen.
Am richtigen Hotel angekommen hieß es dann, wir müssten zum Abendessen eine weitere Viertelstunde zu einem anderen Hotel fahren. Da es bereits 19:30 Uhr war, musste die überfällige Dusche noch warten, denn Essen ist wichtiger. Peter wurde heute 12., Loic 30. und verteidigte seinen vierten Gesamtplatz. Meine beiden Teamkollegen aus Singapur sind beide in der langen Abfahrt gestürzt und einer hatte danach noch einen Platten. Weil er sich dann vom Teamauto ziehen ließ, um wieder in seine Gruppe zu kommen, wurde er von einem Kommissär disqualifiziert und musste in den Besenwagen steigen.
Morgen steht also endlich die neunte und letzte Etappe an und es geht über läppische 108 Kilometer an der Küste entlang. Dort ist es allerdings nicht flach und es warten drei Bergwertungen auf uns. Da zwei philippinische Fahrer aus den beiden heimischen Teams in der Bergwertung nur um zwei Punkte auseinander liegen, wird es darum nochmal einen harten Kampf geben. Ich kann nur hoffen, dass sie ihn vorne in einer Gruppe austragen und nicht aus dem Feld heraus. So oder so werde ich alles, was meine Beine noch hergeben, heraus quetschen müssen, denn jetzt will ich die Rundfahrt auch beenden.
Radfahrzeit: 6:48 h
Transferzeit: 2:45 h
Souvenir des Tages: wieder keine Ahnung
Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle.
Gez. Sportfreund Radbert
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