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08.11.2021 | (rsn) - Leider habe ich gestern wirklich keine freie Minute gefunden, meinen Triumph zu genießen oder gar Tagebuch zu führen. Erst auf dem Heimflug konnte ich nochmals einige Gedanken sammeln und möchte mit einem abschließenden Tagebucheintrag meine Gedanken und Erlebnisse ein letztes Mal mit Euch teilen.
Die Abschlussetappe vor Millionen-Publikum mit Ziel in der Hauptstadt Ouagadougou war ein Ritt auf Messers Schneide. Am Start um acht Uhr herrscht bereits eine Affenhitze und das Rennen startet wie erwartet schnell. Wir versuchen, die Oberhand zu gewinnen und das Feld zu kontrollieren. Nicht einfach nach neun schweren Renntagen am Ende einer langen Rennsaison.
Früh auf der Windkante und isoliert von meinem sonst so aufmerksamen Team fand ich mich in einer Staffel mit fünf algerischen Rennern wieder. Um jeglichen Unsportlichkeiten aus dem Weg zu gehen, fahre ich bewusst viel im Wind auf der falschen Seite der Gruppe. Wohl wissend, dass gerade die nordafrikanischen Fahrer hier am Start auf und abseits des Rades bekanntermaßen zu jeder “Schandtat“ bereit sind (hier spielt Bichlmann auf eine Schlägerei zwischen zwei Teams im Verlauf der Rundfahrten an, d. Red). Tatsächlich werden sie nicht tätig - vielleicht der Aura des Gelben Trikots geschuldet…
Ich bleibe ruhig und fahre weiterhin fehlerlos. Bevor es auf den abschließenden fünf Kilometer langen Rundkurs geht, der zehn Mal zu bewältigten ist, kämpft sich etwas überraschend ein vom Gelben Trikot und einer fantastischen Atmosphäre im Team beflügelter Robert Müller zurück in die erste Gruppe. Meinen taktischen Anweisungen leistet er sofort - obwohl er weiß, dass es für ihn ein Himmelfahrtskommando ist - bedingungslos Folge. Das Tempo kontrollieren und beständig mit Zug auf der Kette Meter um Meter näher ans Ziel der Träume. Robert fährt sein Innerstes nach außen für mich - und leistet elementaren Anteil zum Gesamtsieg. Auch unser “Jünglie“ Jan Stöckli kommt zurück. Er sollte sich abermals als toller Helfer und ebenso toller Charakter erweisen.
Wie tausendfach einstudiert, konzentriere ich mich nur mehr auf die Basics. Bloß nicht zu viel nachdenken! Ich benutze meine beiden verbleibenden Helfer bis zum absoluten Maximum, zeige weder ihnen noch der Konkurrenz Schwäche und bin immer Herr der Lage. Nach unzähligen Attacken der Konkurrenz schwinden die Kräfte. Der Tritt wird unrund. Denken kann ich nur noch an Wasser. Bewusst lasse ich Fahrer ziehen, die mich nicht unmittelbar bedrohen im Kampf ums gelbe Trikot. Einige Sekunden verliere ich dehydriert auf den letzten drei Kilometern, wo ich teils bewusst, teils einen schweren Rennen geschuldet, nur mehr defensiv agiere. Der junge Stöckli pilotiert mich treu bis an die Ziellinie. Der Gesamtsieg ist vollendet.
Enormer Hektik geschuldet (diverse Siegerehrungen und anderer Annehmlichkeiten) komme ich erst gegen Mitternacht endlich zurück ins Hotelzimmer. Erst beim Verpacken meiner mehrerer Kilogramm schweren Trophäe dämmert es mir, welch surrealer Erfolg mir gelungen ist, als ich die Gravur lese. “e vanquiner classement General- 33’ Tour du Faso“ steht dort im Eisen auf ewig eingraviert. Seit meiner knappen Niederlage am dritten Renntag fahre ich ein perfektes Rennen. Es gelingt alles - auch das Material spielt von den schweren Bedingungen unbeeindruckt immer optimal mit. Keinen einzigen Platten habe ich mir gefahren. Ich bin stolz auf das Geleistete!
Viele Jahre der Entbehrung und ein Lebensstil, den die wenigstens bei mir vermuten, haben mich körperlich und mental zu dem Athleten gemacht, der ich bin. Ja, ich bin ein Lebemann und für viele Späße zu haben - was aber nicht (wie viele fanatische Sportler meinen) heißt, dass ich keinen sportgerechten Lebenswandel führe.
Meine berufliche Tätigkeit als Kaminkehrer und ein toller Freundeskreis sorgen dafür, dass ich seit jeher meine Augen auf die Realität richte.
Natürlich darf hier keine Danksagung an alle beteiligten fehlen, die diese tolle Reise möglich gemacht haben - nicht zuletzt meiner eigentlichen Mannschaft, den Maloja Pushbikers: Als Dank bringe ich eine beträchtliche Anzahl UCI-Punkte mit nach Oberbayern. Ebenso erwähnt gehören die Daheimgebliebenen, die mich immer unterstützen haben!
Ein riesiges Dankeschön auch an die Schweizer Truppe (Team KIBAG-OBOR-CKT), die mir selbstlos zur Seite stand! So trennten sich unsere Wege am Flughafen Istanbul wieder. Die vergangenen 14Tage ließen mir größtenteils unbekannte Gesichter ans Herz wachsen. Ausgezeichnete Kameraden und Freunde habe ich hier gefunden. Einem jeden einzelnen möchte ich kurz Dank sagen:
Dominik Merseburg, mein “Leutnant“:
Seit Jahren ein guter Freund, auf den auf und abseits des Rades immer 100 Prozent Verlass ist. Die gesammelten gemeinsamen Erfahrungen hier bleiben auf ewig in unsere Männerfreundschaft eingebrannt.
Dominic Kunz:
Ein ruhiger, ehrenwerter Typ, der es auf seiner ersten Afrikareise Defekt und Magen/Darm bedingt nicht gerade leicht hatte. Einen angenehmeren Zeitgenossen als ihn kann ich mir schwer vorstellen (ein Vorzeige-Schweizer sozusagen).
Robert Müller:
Der Mann ein Phänomen! Ein Drittel Abenteurer, ein Drittel Rennfahrer und ein Drittel Philosoph machen ihn zu 100 Prozent Robert Müller! Was auch immer du dir als Nächstes vornimmst - wie verrückt es auch ist - viel Glück dabei!
Jan Stöckli:
Der Schweizerischste Name überhaupt.
Ein Vollblut Rennfahrer, wie ich ihn mir vom Herzen ganzjährig an meiner Seite wünschen würde! Ein 22-Jähriger, aufgeweckt und verlässlich, der sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft hat. Eine echte Schande, dass er noch kein Team für 2022 hat.
Jan Freuler:
Die Tour du Faso sollte sein letztes Radrennen sein. Nicht unbedingt optimal vorbereitet (physisch und psychisch), fiel es ihm schwer, seine Abschlussfahrt zu genießen. Von mir ließ er sich mit dem Spruch “der alte Tiger, stirbt im Kampf“ noch zu wichtiger Mannschaftsarbeit motivieren. In der letzten Nacht noch von einer massiven Durchfall-Erkrankung heimgesucht, konnte er die letzte Etappe nur im Fernsehen an Infusionen angeschlossen vom örtlichen Krankenhaus aus verfolgten. So kurz vor einen Happy End ist es bedauerlich, seine Karriere in einen Krankenzimmer in Afrika zu beenden.
Zu guter Letzt sei Jean Jack „JJ“ Loop erwähnt.
Er hat als Sportlicher Leiter einen ganz besonderen Führungsstil. Ein unglaublich lebensfroher Mensch, den nichts aus der Ruhe bringt und der immer auffallend gute Laune hat. Kein Wunder, mit 43 Jahren Erfahrung im Radsport. Eine kleine Anekdote, die seinen unverbesserlichen Optimismus erahnen lässt: Als ihm am fünften Tag sein Handy gestohlen wurde meinte JJ dazu trocken: “Ich bin zufrieden, sie sind scho guad! Jetzt können sie sich ein paar Wochen Essen kaufen“. Wir schauten ihn fassungslos an - das Smartphone ist in unserer Gesellschaft mittlerweile eher ein trennendes als ein verbindendes Stück geworden. Doch er bestätigt mit seiner Aussage salopp, wie bedeutungslos ein Telefon ist - viel schlimmer fände er es, wenn ihm jemand die Schuhe stehlen würde. Er sieht wirklich immer das positive und mit solchen Menschen verbringt man einfach gerne Zeit! Ich für meinen Teil hoffe, es war nicht das letzte Mal!
Der heiße Kampf ist also beendet. Das größte Radrennen des afrikanischen Kontinents habe ich gewonnen. Dazu kommen ein Etappensieg sowie zwei zweite Plätze errungen. Mehr denn je habe ich zu Hause Zeit, über alles nachzudenken, was zur Erinnerungen geworden ist.
Vielen, vielen lieben Dank an die gesamte Leserschaft fürs Daumen drücken! Ich hoffe, Ihr hattet Spaß mit meinen Erlebnissen. Der Zuspruch war auf jeden Fall gewaltig!
Mein Schreibstil scheint bei vielen recht gut anzukommen.
Peace - out - ich bin raus!
Euer Sportfreund
Daniel Bichlmann
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