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29.07.2013 | 110 Jahre Tour de France – das sind 110 Jahre Faszination Radsport. Die Tour ist der Traum eines jeden Radfahrers und von zig Tausende von Zuschauern. Es gibt Leute, die sagen dem Radsport den Untergang voraus. Doch der Radsport wird nicht untergehen. Er wird weiterleben, vielleicht weitere 110 Jahre.
UND WARUM?
Weil die Zuschauer den Radsport am Leben halten werden – ganz gleich, wie viele unsaubere Sportler weiterhin auf den Straßen (und Bahnen) unterwegs sein werden. Weil der Radsport viel mehr ist als die Tour de France und diejenigen, die weiterhin dopen und immer noch nichts begriffen haben.
Der Radsport benötigt - natürlich - weiterhin Sponsoren, die diesem Sport auch in Zukunft eine Chance geben. Die erkennen, welches Potenzial in ihm steckt. Und die Radfahrer nicht nur als pure Leistungslieferanten, sondern als Sportler mit viel Herz und Leidensfähigkeit sehen.
Radsport beginnt bei der Jugendlichen, die ihren Stars mit sehr viel Engagement nacheifern. Radsport ist ein Gemeinschaftserlebnis. Radsport ist ein Stück Freiheit und ein ewiger Kampf mit dem inneren Schweinehund. Radsport bedeutet zu kämpfen, zu leiden. Er lehrt zu gewinnen, aber auch zu verlieren und den Konkurrenten zu schätzen. Radsport hat so viele Facetten zu bieten, so viele Geschichten zu erzählen - auf der Straße wie auf der Bahn. Man muss sie nur sehen.
Nie wird beschrieben, dass der Radsport - trotz der oftmals großen Menschenmassen entlang der Strecke - eine sehr friedliche Angelegenheit ist. Stets wird das Negative in den Vordergrund gerückt, nie oder nur selten werden die schönen Dinge aufgezeigt. Längst nicht jeder, der Radsport betreibt ist ein Betrüger. Und es ist an der Zeit, endlich auch mal auf andere Aspekte dieses Sportes einzugehen, zum Beispiel auf die Fans…
Denn wer verliert eigentlich jemals ein Wort über die Zuschauer, die in nach wie vor großer Zahl zu den Radrennen pilgern? Wer berichtet darüber, was sie wirklich denken, was sie wirklich wollen? Die wahren Radsportfans - und davon gibt es viele - sind nicht
halb so naiv, wie es viele Medien gerne glauben machen wollen. Sie kaufen weder den Zeitungen oder dem Fernsehen noch den Sportlern alles ab. Der Großteil der Radsportfans, die die Strecken dieser Welt säumen und eine prächtige Kulisse für diesen Sport bieten, hat
eine eigene und durchaus differenzierte Meinung – auch und gerade zum Thema Doping.
Radsport als Völkerverständigung
Im Grunde aber geht es um nichts anderes als um die Gesamtheit des Sports, um seine Faszination und nicht um die Befindlichkeiten eines einzelnen Fahrers, sei er gedopt oder nicht. Die Fans haben dies längst erkannt.
Radsportfans müssen viel reisen, um das ultimative Live-Erlebnis zu finden. Sie zahlen viel Geld, um dabei zu sein. Einfacher und informativer ist es vor dem Fernseher, doch was ist Eurosport im Vergleich dazu, ein Rennen hautnah mitzuerleben? Von dem einen Moment, wenn sich die Woge der Begeisterung langsam und grollend vom Tal immer weiter den Berg hinauf zieht? Wenn die Menschen fröhlich wartend Völkerverständigung betreiben? Wenn das Surren der Räder das Fahrerfeld ankündigt, das sich wie ein Bienenschwarm durch die Straßen zieht?
Was ist mit der einen, flüchtigen Momentaufnahme, wenn die Fahrer die Stelle passieren, an der man Stunden ausgeharrt hat? Unvergleichbar, wenn man in das angespannt gequälte Gesicht blickt, nur wenige Zentimeter von sich entfernt. Man sieht und riecht den Schweiß, man hört den Atem. Gestürzte und blutende Fahrer, denen man auf die Beine hilft. Sprints bei Tempo 70. Jubelnde Sieger und Teamkollegen, die sich umarmen und gratulieren.
Radsport ist ein Sport zum Anfassen. Ein Fußballfan etwa kann davon nur träumen.
Radsport bedeutet auch gegenseitiger Respekt. Wenn die Fahrer sich eine Gasse durch die Menschenmasse bahnen, die gerade mal Platz für einen lässt, kann dies nur gut gehen, wenn man sich gegenseitig vertraut und achtet. Die Fahrer haben sich an die lärmende Begeisterung gewöhnt. Sie haben sie akzeptiert, auch als stimulierendes und garantiert dopingfreies Ergänzungsmittel. Und die Fans haben in der Regel viel zu viel Achtung, als mehr zu tun, als nur schreiend neben den Fahrern zu rennen.
Respekt vor und nach dem Rennen
Mit Respekt und der nötigen Zurückhaltung begegnet man sich auch vor und nach den Rennen. Versuche, die Fans von den Fahrern abzuhalten, scheiterten in den meisten Fällen mehr oder minder kläglich. Fans und Fahrer gehören nun einmal im Radsport zusammen wie das Gelbe Trikot und die Tour de France.
Eine Radsportveranstaltung ist, bis auf diverse Bahnveranstaltungen, noch immer kostenlos. Es ist ein Erlebnis für Jedermann. Für Jung und Alt. Arm und Reich. Für Kenner und Neugierige. Oder einfacher ausgedrückt: ein Sport für das Volk. Und weil auch ein immer größerer Teil dieses Volkes zumindest ab und an sich auch mit dem Rad fortbewegt, kann es zumindest erahnen, was es heißt, sich Berge hochzukämpfen.
Die Leistung dieser Fahrer wird geschätzt - und das von allen. Auf welchem Platz der Einzelne ins Ziel kommt, spielt keine Rolle. Der Letzte erhält ebenso viel Applaus wie der
Sieger. Denn irgendwie ist auch er ein Gewinner, wie das Beispiel der Tour de France zeigt: Er hat Paris erreicht! Und er wird dafür belohnt, weit abgeschlagen hinter dem Feld, mit viel Applaus und ehrlicher Anerkennung. Er dankt es den Zuschauern, die ihn vermutlich
nicht mal kennen, mit einer freundlichen Geste. Neben dem eigenen Hochgefühl über die erbrachte Leistung sicher mit die schönste Auszeichnung für einen Fahrer.
Auch die abgehängten Fahrer werden angefeuert
In manchen radsportbegeisterten Ländern geht die Liebe sogar noch weiter. Selbst in Kneipen werdend bei den Live-Übertragungen alle Fahrer, und insbesondere die Abgehängten, mit Applaus und anerkennenden Worten bedacht. Fahrer, die bei einer Weltmeisterschaft hoffnungslos hinten liegen und das einzige Ziel haben durchzufahren, werden angefeuert, als ob sie sich auf einem Spitzenplatz befänden. Mut und ein großes Kämpferherz schreien geradezu danach „geliebt“ zu werden.
Man muss nur einmal die Gespräche auf der Tribüne oder an der Strecke „belauschen“, um zu erfahren, dass die Fans sehr wohl eine eigene Meinung haben. Es wird diskutiert und sinniert, es gibt durchaus verschiedene Ansätze zu den vielschichtigen Themen, aber (normalerweise) niemals endet eine Diskussion im Streit. Radsport ist ein friedliches Sportevent - und gleichzeitig auch eine einmalige Art der Begegnung. Man freut sich gemeinsam auf ein Ereignis, diskutiert mit Gleichgesinnten, trifft Freunde oder solche, die zu Freunden werden können. Das ist Völkerverständigung von ihrer schönsten Seite.
Menschen aus aller Herren Länder nehmen sich Zeit und Geld in die Hand, um ihren Helden nahe zu sein. Sie kommen aus Belgien, den Niederlande, Deutschland, der Schweiz, ja fast aus ganz Europa. Bewaffnet mit Transparenten und Fahnen suchen sie sich ihren Platz an der Strecke.
Für den kleinen Kolumbianer Quintana reisen Fans an, für van Garderen kommen sie aus den USA. Sie alle möchten den einen, glorreichen Augenblick erleben. Ob es zu mehr als einem flüchtigen Blick auf ihre Helden kommt, steht in den Sternen. Wenn nicht, auch gut. Der Radsport ist trotzdem eine Reise wert.
Mitleiden und mitfühlen
Radsport bedeutet auch Solidarität. Man leidet mit. Man fühlt mit. Am Ende des Rennens spielt es für die Fans kaum eine Rolle, wer gewonnen hat. Der Beste oder der Glücklichste hat es eben geschafft. Und dabei ist es auch selten von Bedeutung, ob es der eigene Lieblingsfahrer ist, aus welchem Land derjenige kommt, oder für welches Team er antritt.
Die einzigen, die ein Problem damit haben, sind die Verbände und Regierungen, die im Wettstreit mit anderen Ländern stehen. Wie im Kindergarten geht es dann zu, wenn eine Nation besser sein will als die andere. Und schnell ist vergessen, dass ein Sportler grundsätzlich alles gibt, aber er seine Leistung nun mal nicht auf Knopfdruck abrufen kann. Schade, dass nur noch Sieger zählen und Zweite schon als Verlierer gelten.
Man weiß eben, dass man ein Rennen zwar planen kann, aber man weiß nie, ob dieser Plan in Erfüllung geht. Menschen sind nun einmal keine Maschinen. Schlechte Beine, ein plötzlicher Hungerast, der Sturz des Vordermanns, Defekte oder ein Hund, der über die Straße rennt - all dies kann ein Rennen beeinflussen.
Bleiben wir beim Beispiel der Tour de France. Das Ziel, in Paris anzukommen, lässt viele Fahrer ihre Pein vergessen und über ihre Leistungsgrenzen hinausgehen. Auch wenn sie nur noch mit Schmerzen aufs Rad steigen können. Für diese harte Seite an ihnen werden sie von den Fans bewundert. Für den Willen, die Leidensfähigkeit, erhalten Sie Achtung und Respekt. Und es ist jedes Mal schön zu erleben, wie das Team zusammen hält und sich gemeinsam über den Erfolg eines Mannschaftskollegen freuen kann - ein Punkt, der in der heutigen, harten Ellbogengesellschaft leider häufig fehlt.
Auch wenn der Radsport leider immer noch als Buhmann unter den Sportarten dargestellt wird, so kann er aber auch das Gegenteil sein: nämlich ein Vorbild an Solidarität und Respekt der Leistung und andern Personen gegenüber. Einschließlich des Gegners, beginnend bei der Jugend.
Die Fans wollen keine Rekordjagd
Und noch eines sei erwähnt: Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass die Zuschauer immer mehr Rekorde sehen wollen, noch härtere Sprintduelle, noch mehr Leiden am Berg und immer spektakulärere Abfahrten – das ist nicht die Wahrheit. Denn einem echten Radsportfan ist es relativ egal, ob die Fahrer die schnellste Tour aller Zeiten fahren. Es spielt keine Rolle, ob sie eine halbe Stunde länger am Berg warten müssen oder ob der Sprint mit Tempo 65 km/h oder 85 km/h zu Ende geht. Auch finden die Allermeisten es nicht besonders „anziehend“, einen Radfahrer statt um die Kurve direkt in den Abgrund stürzen zu sehen. All das dient, so mein Verdacht, lediglich dazu, spektakuläre Schlagzeilen zu bekommen und Einschaltquoten und Auflagen zu generieren.
Ist es denn nicht schon geschichtsträchtig genug, wenn man die Qualen eines Sportlers so hautnah und live erleben kann wie beim Radsport? Gibt es hier nicht genug spannende Geschichten zu schreiben? Wir möchten die Fahrer auf dem Rad heil ins Ziel fahren und nicht im Krankenwagen abtransportiert sehen.
Vielleicht gibt es aber auch noch einen Grund, weshalb der Radsport nicht so schnell am Ende sein wird, wie viele es prognostizieren. Radsportler erlebt man, auch wenn sie noch so erfolgreich sind, in der Regel stets als bodenständige, nahbare Menschen. Als Menschen des Volkes. Weil sie wissen, was harte Arbeit ist. Und weil genau dieser Punkt den Radsportler und den „normalen“ Arbeiter und Fan verbindet.
Die 100. Austragung der Tour de France ist nun schon eine Woche vorbei Sie endete am 21. Juli 2012 an einem wunderbar lauen Sommerabend in Paris. Die Übertragung der Siegerehrung auf dem Place de la Concorde wurde von vielen hunderttausenden Zuschauern mit Applaus begleitet. Und es gab kaum welche, die bei der Siegerhymne zu Ehren von Christopher Froome nicht aufgestanden sind.
Auf die nächsten 110 Jahre der Tour de France und des Radsports.
Die Autorin: Nicolette Hofmann, Jahrgang 1964, arbeitet als Projektreferentin für die Landesmesse Stuttgart. Seit 1990 ist sie Mitglied im Radsportverein RSV Öschelbronn und arbeitet ehrenamtlich auch als Richterin bei Radrennen im Bezirk Schönbuch-Würmtal und Stuttgart. Als Radsport-Fan reiste und reist sie immer wieder zu Radrennen, auch, um dort alte und neue Freunde zu treffen. Erstmals erlebte sie in diesem Jahr ein Tour-Finale in Paris. „Momentan fehlt mir leider etwas die Zeit zum Mitreisen. Aber es ist immer wieder ein einmaliges Erlebnis, wenn man bei einem Radrennen live dabei ist. Ich möchte es auch in Zukunft nicht missen und werde, so weit ich etwas dafür tun kann, auch weiterhin für den Radsport kämpfen“, sagte Nicolette Hofmann zu Radsport News. Einen weiteren Beitrag hat sie mit diesem Artikel geliefert.
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