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16.11.2014 | (rsn) - Selten ist so intensiv über Reformen im Profiradsport diskutiert worden wie in diesem Herbst. Während sich Vertreter des Fahrerlagers, der Profirennställe und der Rennveranstalter in Paris mit Funktionären des Radsportweltverbandes UCI treffen, um über die zum Jahr 2017 umzusetzenden Neuerungen zu beraten, ist in Frankreich, dem Mutterland des Radsports, eine Debatte darüber angestoßen worden, wie die wichtigsten Rennen attraktiver gestaltet werden können. Fünf Mittel gegen Langeweile hat jüngst die Sportzeitung „L'Equipe“ vorgeschlagen.
Ausgangspunkt der Debatte ist der Umstand, dass 2014 nicht weniger als 40 Prozent aller World-Tour-Rennen in Massensprints endeten. Selbst selektive Parcours wie jene des WM-Straßenrennens sowie der Monumente Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt verhinderten nicht, dass die Fahrer die Entscheidung in den Schlussteil jenseits der wichtigsten topographischen Schwierigkeiten verlegten. Überspitzt ausgedrückt, könnten sich die Organisatoren die ersten zwei Drittel der Rennen schenken und sie auf rund 70 Kilometer verkürzen.
So einfach ist es sicher nicht, aber trotzdem rümpfen die traditionsbewussten Franzosen die Nase, wenn ein eher der Sprinterfraktion zuzurechnender Fahrer wie Simon Gerrans Lüttich-Bastogne-Lüttich, das vielleicht härteste Eintagesrennen des Profizirkus, auf Rang eins beendet.
Was also tun gegen die aufkommende Langeweile und den fortschreitenden Attraktivitätsverfall nahezu aller Radrennen jenseits der Tour de France? Dies sind, in Kürze, die fünf Vorschläge, die die „L'Equipe“-Redaktion mit prominenten Profis und Funktionären diskutiert hat:
Vorschlag 1 - Kleinere Aufgebote. Bei den großen Eintagesrennen sollen pro Team nur noch sechs, bei den Grand Tours nur noch acht Fahrer pro Equipe an den Start gehen. Dies hätte den Effekt, dass die Top-Favoriten die Rennen mit ihren Helfern nicht mehr so gut würden kontrollieren können wie zuletzt.
Diese Neuerung würde sich auch gut mit den UCI-Plänen vertragen, wonach die World-Tour-Teams auf 22 Profis - zuzüglich B-Team - verkleinert werden sollen. Denn mit den aktuellen Kadern gäbe es für manchen Rennstall Probleme, alle Akteure über die Saison verteilt ausreichend einsetzen zu können, dürften sie bei den großen Rennen weniger Athleten einsetzen.
Zu den Befürwortern kleinerer Aufgebote gehören auch die französischen Spitzenfahrer Christophe Riblon und Romain Bardet, die es begrüßen würden, wenn die Helfer früher ermüdeten, weil dann die Favoriten selbst das Heft in die Hand würden nehmen müssen. Als Gegner positioniert sich Thomas Voeckler, der es als unzumutbar ansieht, wenn bei Rennen mit bis zu 260 Kilometern Länge nur noch sechs, respektive acht Profis pro Sportgruppe zur Verfügung stünden.
Beide Argumente leuchten ein, aber Voeckler kann man entgegnen, dass Mannschaften in derselben Größe derzeit sowohl bei 150- als auch bei 250-Kilometer-Rennen im Einsatz sind. Warum also sollen nicht auch sechs Mann gemeinsam 250 Kilometer absolvieren – zur Not ginge dies ja auch mit geringerem Tempo.
Vorschlag 2 - UCI-Punkte anders verteilen. Unterschwellig wird in Frankreich kritisiert, dass Alejandro Valverde mit nur drei Siegen in World-Tour-Wettbewerben (unter anderem bei der Clasica San Sebastian und dem Flèche Wallone) am Saisonende die Weltrangliste anführt, während auf Rang zwei mit Alberto Contador immerhin der Gesamtsieger der Vuelta und Gewinner von immerhin acht World-Tour-Rennen folgt.
Der Ansatz zur Punktereform ist allerdings nicht die Aufwertung von Siegen, sondern eine geringere Abstufung der Prämien. Ein 12. Platz bei einem großen Klassiker bringe beispielsweise keine World-Tour-Punkte. Der Vorschlag, den die Sportchefs Alain Gallopin und Vincent Lavenu unterstützen, lautet daher, bei den Klassikern die 15 bis 20 Besten zu prämieren. Dann käme es nicht mehr nur auf die ein oder zwei Spitzenfahrer pro Team an.
Die Franzosen sehen in der Punktevergabe aber möglicherweise mehr Potenzial ,als sie in Wahrheit birgt. Voeckler zum Beispiel interpretiert das Finale von Paris-Nizza 2011 als Resultat einer ausgeklügelten Punktepolitik: Tony Martin sei während der letzten Etappe von Levy Leipheimer, Janez Brajkovic und Andreas Klöden (alle RadioShack) damals nicht mehr attackiert worden, weil die Equipe mit drei Fahrern in den ersten Zehn mehr Zähler gewinnen konnte als mit einem Gesamtsieger. Eine wackelige These, zumal ein Gesamtsieg eines der drei RadioShack-Profis keineswegs automatisch den Verlust der anderen beiden Top-10-Ränge bedeutet hätte. Und ein Paris-Nice-Gesamtsieg ist dann wohl doch zu wertvoll, um ihn dem Rechenschieber zum Opfer fallen zu lassen.
Vorschlag 3 - Technische Hilfsmittel einschränken. Speziell die SRM-Technik ist einigen Fahrern und Sportlichen Leitern ein Dorn im Auge. Ihre Argumentation: Der Blick auf die Watt- und Puls-Anzeige ermögliche es den Profis, genau einzuschätzen, wie lange sie ein bestimmtes Tempo anschlagen können ohne einzubrechen. Nicht nur Kalkül-Fetischisten wie Bradley Wiggins und Chris Froome stehen in der Kritik, auch die Helfer profitieren vermeintlich in unlauterer Weise von den SRM-Messungen, weil sie sich an der Spitze eines Feldes oder einer kleineren Gruppe auf den Punkt verausgaben können, ohne den Motor zu früh zu überdrehen. Umso mehr ermögliche es die Technologie, Rennen von außen zu steuern, so dass die Top-Leute die Entscheidungen gerade in den Bergen erst auf den letzten Kilometern suchen.
Skeptiker bezweifeln allerdings, dass SRM der Todesstoß des spontanen Radsports ist. „Wenn Froome schwach ist, ist er schlagbar. Punkt“, so einfach formuliert es FDJ-Trainer Julien Pinot. Differenzierter sieht es Cyril Guimard, der sich eines Experiments mit Jacky Durand und Thierry Marie entsinnt. In den 1990er-Jahren habe der Einsatz von Wattmessungen ermöglicht, dass die beiden Roller sich in den Bergen mehr zutrauten, weil sie nicht von vornherein erwarteten, an den Steigungen einzubrechen. Klingt nach gefühlten Temperaturen, aber die Vuelta 2014 zeigte auch, wie sehr Froome sich auf sein SRM verlässt. Indes: Gewonnen hat er die Spanien-Rundfahrt nicht.
Vorschlag 4 - Revolutionierung der TV-Übertragungen. Zur Attraktivitätssteigerung des Radsports soll eine bessere Verfolgbarkeit beitragen. Die häufig eintönigen Rennverläufe könnten dann für die Zuschauer interessanter sein, wenn sie mehr Einblicke ins Renngeschehen bekämen. So solle jeder Rennfahrer für die Fans per Transponder zu jedem Zeitpunkt des Rennens lokalisierbar sein. Dies, so Jean-Maurie Ooghe, Produzent der TV-Bilder von der Tour, sei in der Zeit der Smartphones technisch umsetzbar, wenn auch aufwändig.
Doch Ooghe wünscht sich noch mehr: Kameras an allen Fahrrädern sollen zusätzliche Bilder liefern, dazu seien Interviews mit Fahrern während der Rennen denkbar. So könnte der Radsport auch das jüngere Publikum wieder verstärkt ansprechen, weil die für Außenstehende oft kryptischen Taktik-Szenarien dann leichter verständlich und attraktiver verpackt würden.
Auf den ersten Blick klingt das verlockend, zumal selbst die Berichterstatter bei Radsport-Übertragungen deutlich öfter im Dunkeln tappen oder gar Fehlinformationen verbreiten als beispielsweise bei Fußball-Übertragungen, wo das Geschehen im Stadion mit 22 statt 200 Protagonisten leichter zu überschauen ist. Doch neuen technischen Schnickschnack hat es schon mehrfach gegeben, ohne dass er sich langfristig etabliert hat.
Manch einer erinnert sich sicher noch an die Einblendungen der Pulsfrequenzen um die Jahrtausendwende. Nachdem auch der letzte TV-Produzent davon überzeugt worden war, dass diese Angaben kaum aufschlussreich sind, wenn nicht auch Referenzwerte wie die Maximal- und Ruheherzfrequenzen der betreffenden Profis sowie das Renntempo genannt werden, verschwanden die Einblendungen wieder.
Auch Fahrradkameras sind schon eingesetzt worden, ohne dass sie den Sport auch nur ansatzweise revolutioniert hätten. Und für Interviews eignen sich auch die Sportlichen Leiter und Fahrer, die gerade nicht auf dem Sattel sitzen - allein schon wegen der Unfallgefahr.
Vorschlag 5 - Berge im Rotationsprinzip. Die Tour hat es vorgemacht: Gut 100 Kilometer lange Etappen, gespickt mit harten Anstiegen ohne nennenswerte Flachstücke haben mitunter die packendsten Rennverläufe geliefert. Waren einst die 250-Kilometer-Brocken das Salz in der Radsport-Suppe, hat sich das Bewusstsein in der jüngeren Vergangenheit gewandelt. Dies soll Rückschlüsse auch für die Klassiker zulassen, wobei die Befürworter betonen: Die grundsätzlichen Eigenheiten der Monumente sollten nicht angetastet werden, schon gar nicht sollen diese Rennen deutlich verkürzt werden.
Aber Befürworter wie Manager-Fuchs Guimard sehen den Schlüssel in Veränderungen von Jahr zu Jahr. Als Beleg führt Guimard an, dass die Einführung des Anstiegs Côte de la Roche aux Faucons bei Lüttich-Bastogne-Lüttich im ersten Jahr (2009) eine rennentscheidende Rolle spielte, dieser Effekt im zweiten und dritten Jahr dann aber stetig nachließ. Veränderungen dieser Art seien daher nach dem Rotationsprinzip anzuwenden, damit sich Teams und Fahrer taktisch nicht zu sehr darauf einstellen können. Statt „immer höher, immer steiler“ lautet die Maxime gewissermaßen „öfter mal was Neues“.
Die Vorschläge aus Frankreich sind mehr als nur eine Randnotiz wert, wenn auch die Vorstellungen hinsichtlich der packenden TV-Events eher einer Zirkusnummer gleichen. Aber eine Testphase beziehungsweise eine Anwendung probehalber mancher dieser Anregungen wäre allemal sinnvoll. Hinterher ist man immer schlauer, und vielleicht bringen ja SRM-Verbot, verkleinerte Rennaufgebote und von Jahr zu Jahr variierende Rennstrecken einen positiven Wandel hin zu mehr Abwechslung. Dass Radprofis freiwillig den Sieg eines prestigeträchtigen Rennens abschreiben, um ihrem Team möglicherweise mehr Ranglisten-Punkte zu sichern, ist indes mit ziemlicher Sicherheit ein Szenario aus einer anderen Welt – nicht aus der Welt des Radsports.
In diesem Sinne: Probieren geht über Studieren. An den alten Gewohnheiten festhalten kann man im Zweifelsfall auch noch im Anschluss an einen Test. Und solch ein Test würde allein schon die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen.
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