Vor- und Nachteile der Produktion am Kontinent

Kehrt die Fahrrad-Fertigung nach Europa zurück?

Von Thomas Geisler

Foto zu dem Text "Kehrt die Fahrrad-Fertigung nach Europa zurück?"
| Foto: hpvelotechnik.com/ pd-f

31.07.2022  |  Seit mehreren Jahren treiben einige Hersteller den Wiederaufbau der Fahrradfertigung in Europa voran. Durch die aktuellen Einschränkungen in der Lieferkette und die Corona-Lage in Asien hat das Thema seit 2020 zusätzlichen Schwung bekommen. Die Fertigung in Europa hat viele Vorteile, ist aber nicht so leicht umsetzbar. Der pressedienst-fahrrad hat bei Fahrradherstellern die Vor- und Nachteile erfragt.

Ein Fahrrad, komplett in Europa gefertigt? Die Idee ist nicht neu, sondern war lange Realität. Die Fahrrad-Produktion war in Deutschland und Europa lange sehr stark vertreten, wanderte aber sukzessive nach Asien ab. Seit ein paar Jahren gibtb es bei immer mehr Herstellern jedoch auf Hinweise zur europäischen Produktion. Wobei der Begriff hier für Verwirrung sorgen kann und es nicht geklärt ist, ab wann ein Fahrrad wirklich als ein europäisches Produkt zählt. Viele Zulieferteile stammen nämlich weiterhin aus Asien, und werden in Europa zum Gesamt-Produkt zusammengefügt.

Der Hamburger Hersteller Stevens lässt seine Räder
fast komplett in Europa montieren, rund 60 Prozent in einem eigenen Werk in Niedersachsen. „Die Montage vor Ort ist nachhaltiger als eine Asien- oder Fremd-Montage, da das erforderliche Transport-Volumen um gut 50 Prozent niedriger ausfällt. Zudem sind die Räder besser endgefertigt und benötigen weniger Verpackungsmaterial als Komplett-Räder aus dem Container“, erklärt Volker Dohrmann, Leiter Produkt, Strategie und Marketing bei Stevens.

Die Montage direkt am Verkaufsmarkt durchzuführen, ist mittlerweile bei vielen Herstellern beliebt. Beispiele: Das US-Unternehmen Cannondale hat seine Europa-Fertigung in den Niederlanden im letzten Jahr weiter ausgebaut. Der Kinderrad-Hersteller Puky, der seine Laufräder komplett, also von der Rahmenproduktion über das Lackieren bis hin zur Montage, in Deutschland fertigen lässt, eröffnet nun in Polen ein Montage-Werk für Teile seiner Kinderräder.

„Grundsätzlich versuchen wir, so lokal
wie möglich zu produzieren. Das gelingt uns auch an unserem Standort in Wülfrath, bzw. in Deutschland. Die zunehmend komplexen Fahrzeuge und die veränderte Weltmarktlage erfordern auch von uns andere Strategien. Dazu hat uns die Pandemie gezeigt, dass wir uns in vielen Bereichen breiter aufstellen müssen“, sagt Puky-Marketing-Leiter Karsten Geisler. Man wolle sich so mit einfachen Alternativen in unberechenbaren Zeiten absichern und unabhängiger vom asiatischen Markt machen.

Auch andere Hersteller wie Flyer, Riese & Müller, Winora oder Ghost lassen Räder in Deutschland und Europa assemblieren und endmontieren. Doch „Made in Europe“ bedeutet mittlerweile mehr – nämlich einen Großteil der Wertschöpfung für das Produkt Fahrrad in Europa zu erwirtschaften. Die Vorteile: schnellere Lieferbarkeit und günstigere Preise.

Beim baden-württembergischen Hersteller
Tout Terrain
bedeutet das: Entwicklung, Konstruktion, Prototypen-Bau, Pulverbeschichtung und die komplette Vor- und End-Montage werden in Europa durchgeführt. Beim Liegerad-Hersteller HP Velotechnik verhält es sich ähnlich: Viele Räder sind individuell angepasst und werden deshalb am Firmensitz in Kriftel zusammengebaut. Dort findet zudem der Bau von Prototypen statt, die Pulverbeschichtung der Räder erfolgt in Deutschland und den Niederlanden. „Die Rahmen unserer Räder beziehen wir jedoch weiterhin aus Asien“, erklärt Pressesprecher Alexander Kraft. Die asiatischen Hersteller verfügten über eine hohe Fertigungstiefe, hervorragende Qualität und große Produktions-Kapazitäten.

Doch es gibt auch Manufakturen, die ihre Rahmen-Fertigung in Deutschland durchführen, etwa der niedersächsische MTB-Spezialist Nicolai, der komplett in Elze/ Mehle produziert – was vor  allem beim Rahmen-Material Aluminium eine echte Ausnahme ist. Aber auch in diesem Bereich kündigen sich Veränderungen an.

Speziell der Produktions-Standort Portugal
hat sich in den letzten Jahren als Alternative zur Rahmen-Produktion in Asien etabliert. Seit 2015 wird auf der iberischen Halbinsel der Aufbau einer europäischen Rahmenfertigung vorangetrieben. Mit EU-Subventionen wurden Fertigungsanlagen gebaut, in denen 2020 bereits 2,7 Millionen Rahmen produziert wurden, Tendenz weiter steigend: Für 2022 wird mit einem Anstieg um rund 50 Prozent gerechnet. Auch die Fertigung von Carbon-Rahmen läuft mittlerweile an. Durch ein eigenes Forschungs- und Entwicklungs-Zentrum sowie Kooperationen mit Universitäten will Portugal seine Vorreiterrolle in Europa weiter ausbauen.

Als Vorbild dienen hier übrigens die Fahrrad-Hersteller aus Taiwan, die bereits in den 90er Jahren begonnen haben, gemeinsame Entwicklungseinrichtungen zu bauen. Hauptabnehmer der portugiesischen Rahmen sind Fahrradhersteller aus Spanien, Frankreich und Deutschland. E-Bike-Hersteller Riese & Müller lässt beispielsweise einen Teil seiner Rahmen seit 2018 in Portugal fertigen.

Auch in Bulgarien, Ungarn oder Polen eröffneten
in den letzten Monaten Werke für einen Ausbau der europäischen Fahrrad-Produktion – in manchen Fällen auch mit  Unterstützung asiatischer Partner, wie Volker Dohrmann feststellt: „Einige visionäre Lieferanten aus Asien lassen sich seit geraumer Zeit in Europa nieder oder streben Joint Ventures an. Dort treffen dann die erfahrenen Fernost-Anbieter auf den lokalen Markt, erhalten eine Förderung und positive Aufnahme durch die neuen Wirtschafts-Regionen. Das scheint uns für die rasche Etablierung einer neuen, starken und umfassenden europäischen Fahrrad-Produktion als sehr sinnvoll.“

Die hiesige Produktion hat für die Hersteller viele Vorteile, nicht nur in Bezug auf Logistik. Natürlich resultieren kürzere Wege in erster Linie in geringeren Transportkosten. Aber auch in Sachen Nachhaltigkeit und Emissions-Einsparung ist eine Produktion in Europa interessant. Zudem können Hersteller bei der Nachlieferung flexibler und schneller reagieren. Die europäische Fertigung wird zusätzlich dadurch gestärkt, dass die Löhne in einigen asiatischen Ländern seit Jahren steigen. Außerdem achten die Verbraucher/innen verstärkt auf faire Arbeitsbedingungen und Nachhaltigkeit bei der Produktion – gerade für die Fahrrad-Branche wichtige Punkte in der Lieferkette.

Durch die Corona-Pandemie und die dadurch
verursachten Lieferprobleme wurde die Diskussion noch verschärft. „Eine Produktion in Europa ist für uns aus unterschiedlichen Aspekten enorm wichtig“, fasst Patrick Tepaß, Produkt-Manager bei Tout Terrain, die aktuelle Situation zusammen. Stefan Stiener, Geschäftsführer beim Hersteller Velotraum, ergänzt: „Die Diskussion einer Fahrrad-Produktion in Europa ist, mit Augenmaß betrieben, ebenso angesagt wie notwendig.“

Doch eins ist klar: Die europäische Produktion kann in den nächsten Jahren den heimischen Markt noch nicht vollständig bedienen. Prognosen gehen davon aus, dass sich bis 2030 die Verkäufe EU-weit bei 25 bis 30 Millionen Fahrrädern einpendeln – und zwar jährlich. Ob eine europäische Produktion dieses Volumen langfristig erreichen kann? „Die weitere Entwicklung hängt von vielen Faktoren ab, daher ist eine Prognose zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Was die Pandemie aber gezeigt hat: Bestehende Prozesse dürfen immer wieder überprüft und angepasst werden“, sagt Christoph Mannel, Geschäftsführer der Winora Group.

Hinzu kommt, dass die Abhängigkeit von
asiatischen Partnern weiterhin bestehen bleibt. Aluminium, das bei den meisten Fahrradrahmen als Werkstoff zum Einsatz kommt, wird in großen Mengen fast ausschließlich in China hergestellt. Außerdem produzieren viele Teile-Lieferanten in Asien. Shimano, Marktführer bei Antriebs-Komponenten und Bremsen, betreibt zwar Fertigungsanlagen in Europa, hat seine Hauptwerke aber in Japan, Malaysia und Singapur. Eine Verlegung der Produktion nach Europa wäre ein komplexer Vorgang, der Jahre dauern würde.

„Ob jemals wieder 100 Prozent der Komponenten in Europa gefertigt werden können, halten wir eher für unwahrscheinlich“, sagt Patrick Tepaß von Tout Terrain. Gerade Kleinteile, die weniger von den steigenden Transportkosten betroffen sind, werden vermutlich auch weiterhin in Asien gefertigt – u. a. weil in Europa die Facharbeiter/innen auf technischen Gebieten und auch das Wissen fehlen. „Manche Spezialteile können europäische Zulieferer nicht produzieren – oder nur zu utopischen Preisen“, berichtet Alexander Kraft.

Zudem steht der Container-Transport vieler Kleinteile
in großen Transport-Einheiten oft in der Klima-Bilanz nicht schlechter da als die Produktion am Zielmarkt - wenn dazu Rohstoffe und Produktionsmittel aus vielen weit entfernten Quellen zusammengeführt werden müssen. Europäische Teilehersteller als Alternative gibt es zwar am Markt, doch diese sind meist kleinere Unternehmen, die im hochpreisigen Segment arbeiten und eine hohe Nachfrage kaum befriedigen können.

Dennoch sind gerade diese Zulieferer aktuell bei den Fahrradherstellern sehr gefragt, weiß Stefan Stiener von Velotraum: „Wir sind bei unseren Zulieferern jetzt schon sehr europäisch aufgestellt. Ein wichtiger Schritt, um die ungute Abhängigkeit von einem Lieferanten oder gar Monopolisten zu verhindern. Die Metamorphose vom Partner zum Bittsteller dürfen wir ja im Moment noch zur Genüge auskosten. Das aufzubrechen, wo immer es geht, sehen wir als wichtige Zukunftsaufgabe.“

Thomas Geisler ist Redakteur beim "pressedienst-fahrrad".

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