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26.10.2020 | (rsn) - Wer beim Giro d’Italia auf den Gesamtsieg von Tao Geoghegan Hart (Ineos Grenadiers) gewettet und vielleicht auch noch das Sunweb-Duo Jai Hindley und Wilco Kelderman auf die Plätze zwei und drei gesetzt hätte, der müsste sich über seine finanzielle Zukunft wohl keine Sorgen mehr machen.
Dabei hätte nach dem frühen Ausscheiden von Geraint Thomas doch klar sein müssen, wer diesen Giro gewinnt. Denn der Fußballerspruch von Gary Lineker - "22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen" - lässt sich in leicht veränderter Form auch auf den Radsport anwenden: "Eine Grand Tour führt über 21 Etappen und am Ende gewinnt Ineos". Mit seinem Coup setzte der 25-jährige Geoghegan Hart eine seit 2015 gültige Serie fort, wonach der britische Rennstall in jedem Jahr mindestens eine der drei dreiwöchigen Rundfahrten gewinnt.
Dabei präsentierte sich Ineos Grenadiers sich während des Giro d`Italia als ausgesprochen wandlungsfähig. In Palermo mit dem Ziel Gesamtsieg für Geraint Thomas angetreten, machte dessen Sturz dem Team einen dicken Strich durch die Rechnung. Die neue Maßgabe lautete danach: auf Etappensiege fahren! Und diese Rechnung ging perfekt auf.
Nicht weniger als sieben der 21 Teilstücke gingen an einen Ineos-Fahrer. Mit seinen beiden Etappensiegen fuhr sich Geoghegan Hart, zunächst heimlich still und leise, schließlich mit aller Macht, auf das Giro-Podium. Die Krönung folgte am Schlusstag in Mailand, als der Londoner ins Rosa Trikot stürmte und Teamkollege Filippo Ganna sich auch noch seinen vierten Etappensieg holte.
Sunweb nach einer starken Saison ohne den ganz großen Triumph
Angesichts der Ausgangslage konnte sich das Sunweb-Duo Hindley und Kelderman über die Plätze zwei und drei nicht so richtig freuen. Für Kelderman war die Italien-Rundfahrt am Ende um eine Bergetappe zu lang, für Hindley um ein Zeitfahren. Der Niederländer und der Australier waren ganz nah dran am Gesamtsieg und auch, wenn es zum großen Triumph nicht reichte, so setzten sie einen bemerkenswerten Schlusspunkt unter eine überragende Sunweb-Saison.
Das Team präsentierte sich in Italien über weite Strecken in herausragender mannschaftlicher Stärke - das hätten dem achtköpfigen Aufgebot, in dem auch der Deutsche Nico Denz seine Rolle perfekt ausfüllte, nicht viele zugetraut. Als Fazit bleibt, dass Sunweb auch nach den Abgang von Tom Dumoulin bei großen Rundfahrten nicht nur erfolgreich Etappen jagen - wie bei der Tour gezeigt -, sondern auch um den Gesamtsieg kämpfen kann.
Während der erst 24-jährige Hindley ein Eckpfeiler bei Sunweb bleibt, wird der fünf Jahre ältere Kelderman ab 2021 die Rundfahrerfraktion von Bora - hansgrohe verstärken. Sein neuer Teamchef Ralph Denk wird den Auftritt des Niederländers genau beobachtet haben. Vielleicht wird er sogar froh sein, dass Kelderman die Italien-Rundfahrt nicht gewonnen hat. Damit ist die Erwartungshaltung an den Neuzugang nicht so hoch und zudem hätte ein Giro-Sieger Kelderman auch die Teamhierarchie durcheinander gebracht.
Schließlich heißt der Grand-Tour-Kapitän weiterhin Emanuel Buchmann und Kelderman soll wohl eher die Lücke füllen, die der Abgang von Rafal Majka hinterlassen wird. Gespannt sein darf man, ob sein neues Team Kelderman als Edelhelfer von Buchmann zur Tour schicken wird oder ob er bei Giro oder Vuelta auf eigene Rechnung wird fahren können. Vielleicht ja beides?
Neue Rundfahrer-Generation im Anmarsch
Wen hatte man vor dem Giro als möglichen Sieger auf dem Zettel? Thomas, Vincenzo Nibali, Jakob Fuglsang, Steven Kruijswijk, Simon Yates - keiner jünger als 28 - die meisten sogar deutlich über 30. Am Ende machten zwei Fahrer aus der jüngeren Generation die Sache unter sich aus. Die Wachablösung scheint nicht nur anzustehen, sondern bereits in vollem Gang zu sein, wenn man bedenkt, dass Toursieger Tadej Pogacar (UAE - Team Emirates) sogar erst 22 Jahre alt ist.
Hinzu kommen weitere Nachwuchsstars wie der 20-jährige und in Italien verletzt fehlende Remco Evenepoel (Deceuninck - Quick-Step) und die Entdeckung dieses Giro, der ebenfalls erst 22 Jahre alte Joao Almeida, der seinen Teamkollegen Evenepoel vergessen machte und 15 Tage lange im Rosa Trikot fuhr.
Auffällig bei diesem Giro war, dass die favorisierten Routiniers vor allem durch ihre Unbeständigkeit auffielen. Ob Fuglsang, Nibali oder Domenico Pozzovivo (NTT) - sie alle hatten ihre Durchhänger während der drei Wochen und zudem keinen überragenden Tag, an dem sie den Unterschied hätten machen können.
Ehe sie nach positiven Corona-Tests aufgeben mussten, waren auch Kruijswijk und Simon Yates deutlich hinter den Erwartungen zurück geblieben. Nicht bewerten lässt sich dagegen der Auftritt von Geraint Thomas (Ineos Grenadiers), der auf Sizilien verheißungsvoll begann, aber in Folge seines Sturzes in der Neutralisation der 3. Etappe tags darauf nicht mehr antreten konnte.
Zwar präsentierten sich auch die drei besten Fahrer dieses Giro nicht durchgängig auf hohem Niveau. Kelderman konnte auf den letzten beiden Bergetappen nicht mehr mithalten, als Ineos das Heft in die Hand nahm, Geoghegan Hart und Hindley schwächelten dagegen zu Beginn. Das könnte aber auch damit zu tun haben, dass sie als Helfer gestartet waren und erst im Verlauf der Rundfahrt zum jeweiligen Kapitän aufstiegen. Dann jedoch zeigten ihre Formkurven deutlich nach oben.
Schwer zu sagen, welchen Einfluss der Corona-Lockdown auf den Rennverlauf nahm. Fest steht aber, dass es die ganz großen Namen gar nicht braucht, um ein spannendes Rennen zu bekommen. Schließlich lagen vor der Schlussetappe einer Grand Tour die beiden Bestplatzierten praktisch gleichauf. Das gab es noch nie zuvor - mehr Spannung geht nicht.
Deceuninck - Quick-Step nun auch eine Rundfahrertruppe
Der belgische Rennstall gilt als weltbeste Klassiker- und Sprintermannschaft, Rundfahrer dagegen müssten sich meist als Einzelkämpfer bewähren und werden, sobald sie Erfolg haben, von der Konkurrenz abgeworben. So war es im letzten Winter mit Enric Mas, 2018 Dritter der Vuelta, davor mit Daniel Martin, der 2017 die Tour auf Rang sechs beendet hatte, sowie mit Rigoberto Uran, der beim Giro 2014 Zweiter geworden war. Ob sich hier auch Joao Almeida einreihen wird? Der Portugiese, der erst im vergangenen Winter den Sprung in die WorldTour schaffte, war die große Entdeckung der Italien-Rundfahrt, trug auf 15 Etappen das Rosa Trikot und beendete den Giro auf Rang fünf.
Vielleicht wird der Auftritt des 22-Jährigen bei Team-Manager Patrick Lefevere für ein Umdenken sorgen, zumal im kommenden Jahr der Überflieger Evenepoel zurückkehren wird. Dazu kommen noch Weltmeister Julian Alaphilippe, bei der Tour 2019 lange Zeit im Gelben Trikot unterwegs, sowie die starken Helfer Fausto Masnada und James Knox und die talentierten Andrea Bagioli und Mauri Vansevenant. Gut möglich also, dass Deceuninck - Quick-Step künftig auch noch zur Rundfahrer-Großmacht wird.
Apropos Evenepoel. Der junge Belgier wollte beim Giro-Debüt gleich auf Gesamtsieg fahren, ehe ihn sein schwerer Sturz bei Il Lombardia aus allen Träumen holte. Natürlich ist die Frage, ob er die Rundfahrt hätte gewinnen können, von hypothetischer Natur. Doch angesichts des Rennverlaufs und Evenepoels Auftritten bis zu seinem Sturz kann die Antwort nur lauten: ja. Keiner der anderen Favoriten zeigte sich in überragender Verfassung. Dazu hätten Evenepoel die drei Einzelzeitfahren in die Karten gespielt, und mit Almeida, Masnada und Knox hätte auf eine sehr starke Helferriege vertrauen können.
Bora - hansgrohe erreicht das Minimalziel
Mit zwiespältigen Gefühlen wird Bora - hansgrohe aus Italien ins oberbayerische Raubling zurückkehren. Nachdem zwischenzeitlich sowohl Rafal Majka als auch Patrick Konrad vom Podium träumen konnten, lief auf den letzten beiden Bergetappen nicht mehr viel zusammen. Der 31-jährige Pole wurde durch Magen-Darm-Probleme ausgebremst und fiel noch vom sechsten auf den zwölften Platz zurück. Der zwei Jahre jüngere Österreicher behauptete zwar seine Position in den Top Ten, doch mit Rang acht blieb Konrad knapp hinter seinem Ergebnis von 2018, als er Siebter geworden war.
So wartet Bora - hansgrohe weiterhin auf die erste Podiumsplatzierung bei einer Grand Tour. Am nächsten dran kam Buchmann als Vierter der Tour de France 2019. Als Trostpflaster blieb Peter Sagans Etappensieg von Tortoreto, den der Slowake in überragender Manier einfuhr.
So spannend der Kampf um den Gesamtsieg beim Giro d`Italia war, so klar war die Angelegenheit in den Sprints: Arnaud Démare (Groupama - FDJ) trumpfte groß auf, was natürlich mit seiner Top-Form zusammenhing, aber auch der Tatsache geschuldet war, dass es an Konkurrenz auf Augenhöhe mangelte. So war es wenig überraschend, dass der Franzose gleich vier Etappen gewann und sich so das Maglia Ciclamino holte. Im vergangenen Jahr musste er sich im Kampf um das Trikot des besten Sprinters noch knapp Pascal Ackermann (Bora - hansgrohe) geschlagen geben. Diesmal wies Démare fast 50 Punkte Vorsprung auf Ackermanns Teamkollegen Sagan auf, der bei seiner ersten Italien-Rundfahrt zumindest sein Minimalziel erreichte, als er die 10. Etappe gewann.
Filippo Ganna ist seiner Spezialdisziplin unschlagbar. Seit August bestritt der 24-Jährige sieben Zeitfahren, die er allesamt gewann. Vom Weltmeistertrikot beflügelt, entschied Ganna auch beim Giro alle drei Zeitfahrwettbewerbe zu seinen Gunsten und stellte seine Vormachtstellung eindrucksvoll unter Beweis. Der Italiener könnte in den kommenden Jahren zu einer ähnlich prägenden Figur in den Zeitfahren werden, wie in den Jahren zuvor Tony Martin oder Fabian Cancellara.
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