RSNplusAnalyse zum DM-Straßenrennen in Bad Dürrheim

Bora gibt sich früh zufrieden und nutzt die Optionen nicht

Von Felix Mattis aus Bad Dürrheim

Foto zu dem Text "Bora gibt sich früh zufrieden und nutzt die Optionen nicht "
Florian Lipowitz (Bora - hansgrohe) wurde Zweiter der Deutschen Straßenmeisterschaften. | Foto: Cor Vos

23.06.2024  |  (rsn) – 2016 André Greipel, 2020 Marcel Meisen und 2024 nun Marco Brenner: Alle vier Jahre gewinnt bei den Deutschen Straßen-Meisterschaften ein Fahrer, der nicht das Trikot von Bora – hansgrohe trägt. Vor acht Jahren war das beim Sprinter-Festival in Erfurt keine Überraschung, vier Jahre danach am Sachsenring, ebenfalls in einer Sprintentscheidung, dagegen schon.

Und diesmal war mit Marco Brenner (Tudor) einer einfach stärker – und man musste sich die Frage gefallen lassen, ob man das Taktik-Spiel als mit acht Mann größtes  Profiteam im Feld in diesem Jahr vielleicht einfach nicht ganz ideal gespielt hatte.

"Marco hat verdient gewonnen, er hatte die besten Beine heute", erkannte der zweitplatzierte Florian Lipowitz (Bora – hansgrohe) an, ohne aus seiner Enttäuschung, die DM-Siegesserie seines Teams nicht weiter ausgebaut zu haben, einen Hehl zu machen. "Klar bin ich enttäuscht. Das Hauptziel von uns war, mit einem Titel wegzugehen."

___STEADY_PAYWALL___

Dass das nicht gelang, lag am Ende am starken Brenner, aber auch daran, dass Bora - hansgrohe in einem 180 Kilometer langen Rennen zwar zu zweit in  der fünfköpfigen Gruppe vertreten war, die gesamte Kadergröße aber gar nicht nutzte. Das Kletterer-Duo Lipowitz und Ben Zwiehoff traf dort mit Kim Heiduk (Ineos Grenadiers), Tim Torn Teutenberg (Lidl – Trek Future Racing) und wohl auch mit Brenner auf drei sprintstärkere Gegner.

Die Leine war zu lang, als Brenner sich als der Stärkste erwies

Bora - hansgrohe war vorne also unter Zugzwang, musste das Rennen schwer machen und sich darauf verlassen, dass man die drei Begleiter irgendwann am Berg würde abhängen können. Auf dem Papier sah das auch gar nicht schlecht aus, denn die Raublinger hatten zwei ihrer drei stärksten Kletterer vorne, mit denen die Chance am größten schien, die Konkurrenz in den Anstiegen abzuschütteln. Als sich dann rund 60 Kilometer vor Schluss aber abzeichnete, dass dies gegen Brenner wohl nicht gelingen würde, waren alle Verfolgergrüppchen mit weiteren Bora-Fahrern bereits mehr als vier Minuten zurück.

Mit Florian Lipowitz (vorn) und Ben Zwiehoff hatte Bora – hansgrohe gleich zwei Fahrer in der Ausreißergruppe. Im Kampf um den Titel hatte Marco Brenner (Tudor) dann aber das beste Ende für sich. | Foto: Cor Vos

2021 in Stuttgart und 2023 in Bad Dürrheim bei den Siegen von Maximilian Schachmann und Emanuel Buchmann ließ Bora - hansgrohe sich bis spät in den jeweiligen DM-Rennen noch mehr Optionen offen, bildete immer wieder neue Gruppen, die alle noch in Reichweite zum Titel fuhren. Diesmal aber tat man hinten zu wenig, um in Schlagdistanz zu den eigenen Teamkollegen vorne zu bleiben. Als Brenner in der drittletzten Runde einen ersten Test-Angriff ritt und seine vier Begleiter stehen ließ, war so nichts mehr zu reparieren.

"Ich bin alleine angetreten und habe gemerkt, dass mir keiner folgen konnte. Aber weil die anderen vier zusammen geblieben sind, habe ich dann nochmal gewartet", erklärte der neue Deutsche Meister radsport-news.com nach dem Rennen sein kurzzeitiges Solo rund 60 Kilometer vor Rennende, das ihm die nötige Bestätigung gegeben hatte, dass er vorne der Stärkste war. 

Und dieser Eindruck verfestigte sich dann auf dem weiteren Weg in Richtung Ziel immer mehr, bis Brenner schließlich in der letzten Steigung in Aasen mit Lipowitz seinen letzten Begleiter los wurde und das finale Solo zum Meistertrikot startete. Die Beiden waren rund 30 Kilometer vorher aus dem Quintett weggefahren – erst Lipowitz, kurz darauf auch Brenner – und holten schnell mehr als eine Minute auf Heiduk, Teutenberg und Zwiehoff heraus.

Politt: "Dachte, dass das nicht das beste Szenario für Bora war"

"Ich habe ihm (Lipowitz) gesagt: 'Wenn Du schlau bist, dann fährst Du mit (durch die Führung), weil so ist es 1 gegen 1 und sonst 2 gegen 2, wenn die anderen wieder aufrücken – nur dass dann einer wie Kim Heiduk dabei ist, der den Sprint normalerweise gewinnt", so Brenner über die Zusammenarbeit mit Lipowitz an der Spitze. Zu diesem Zeitpunkt aber war das Kind ohnehin schon in den Brunnen gefallen: Brenner schien der Stärkste zu sein, Lipowitz im besten Fall noch eine 50:50-Chance auf den Titel zu haben. Zwiehoff wirkte, nachdem er augenscheinlich die meiste Führungsarbeit verrichtet hatte, müde und der Rest des Bora-Teams war vier Minuten und mehr zurück.

Die fünfköpfige Gruppe des Tages, die den Sieg unter sich ausmachte, löste sich bereits nach wenigen Kilometern – und Bora – hansgrohe gab sich dahinter mit der Situation zufrieden. | Foto: Cor Vos

Nils Politt (UAE Team Emirates) erklärte gegenüber RSN nach dem Rennen, dass er überrascht war, als seine ehemaligen Teamkollegen schon früh im Rennen mit der Konstellation um das Spitzen-Quintett zufrieden zu sein schienen und hinten eher destruktiv agierten, wenn andere nochmal aufs Tempo drücken wollten.

"Ich habe gedacht: 'Okay, mit Lipowitz und Zwiehoff war das nicht das beste Szenario für Bora' – gerade mit Heiduk und Brenner dabei, und selbst Teutenberg ist auch ein superstarkes Rennen gefahren. Ich habe versucht, als die Lücke schon relativ groß war, etwas zu machen. Aber dann ist Bora auch nur am Rad gefahren – und dann war's geschehen", so der Zeitfahr-Meister. "Bora hat alles gekontert, ist aber nie mitgefahren – und dann macht es auch keinen Sinn. Vier Minuten fahre ich alleine nicht zu."

Greipel deutlich: "Taktisch war das halt nicht so super"

Und auch Bundestrainer André Greipel wunderte sich im Gespräch mit RSN: "Taktisch war das von Bora halt nicht so super. Ich hätte die Gruppe nie so groß werden lassen. Mit der Konstellation war nicht zu erwarten, dass man mit diesen Bora-Fahrern Meister wird. Bei mehr als zwei Minuten Vorsprung hätte ich als Sportlicher Leiter von Bora vorne nicht mehr führen lassen. Aber hinterher weiß man es immer besser."

Und die Raublinger selbst? Die schienen nach dem Rennen etwas ratlos. "Im Nachhinein war die Gruppe vielleicht nicht die beste Konstellation für uns und vielleicht hätten wir warten und das Rennen wieder öffnen sollen. Aber am Ende ist immer einfach zu urteilen", überlegte Lipowitz. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer. Die Frage ist aber, ob man es auch zwischendurch oder sogar früher schon hätte sein können.

Als Marco Brenner (Tudor) sieben Kilometer vor dem Ziel attackierte, war Florian Lipowitz (Bora – hansgrohe) chancenlos und musste sich letztlich mit Rang zwei begnügen. | Foto: Cor Vos

"Es war nicht das Ziel, so früh in der Gruppe zu sein. Aber wir waren dort in der Überzahl und von daher sah es ganz okay aus für uns. Am Ende haben einfach die Beine gefehlt", meinte Lipowitz, der eine Woche vor den Meisterschaften noch krank war. "Ich bin nach Frankreich geflogen, nach Tignes in die Höhe (zum Trainingscamp des Tour-Kaders, Anm. d. Red.) und musste zwei Tage später wieder abreisen, war eine Woche nicht auf dem Rad."

Lipowitz und Zwiehoff geht verständlicherweise die Kraft aus

Angesichts dieser Vorgeschichte durfte es auch kaum überraschen, dass dem 23-Jährigen nach 170 Kilometern an der Spitze im Finale die Kraft fehlte, um dem sich in Top-Form befindenden Brenner zu folgen. Trotzdem schien man ihn von Beginn an als eine der wichtigsten Karten fürs Finale gesehen zu haben. "Ich mache den Plan nicht. Wir hatten eine Taktik und wollten jemanden in der Gruppe haben. 'Lipo' war auch Kapitän heute für das Finale. Deswegen haben wir die Situation als gut erachtet", sagte Maximilian Schachmann, dem hinten die Hände gebunden waren.

"Was soll ich machen? Ich fahre fürs Team. Ich hätte antreten können, als die Gruppe ging. Wir waren 35 Kilometer im Rennen und hatten zwei Leute vorn. Einer davon als Kapitän – da fährt man nicht hinterher. Die Zeichen von unserem Sportlichen Leiter waren ganz klar, dass die Situation gut ist. Dann fahre ich nicht hinterher", so Schachmann gegenüber RSN – und weiter:

"Es ist für uns auch eine schwierige Situation. Letztes Jahr mit Nils (Politt) und Emu (Buchmann) waren wir einfach nochmal stärker. Es gibt zwei Taktiken, entweder wir fahren so auf Taktik oder wir sagen wir haben den mit Abstand stärksten Fahrer und machen das Rennen schwer, dass jeder nur noch ums Überleben fährt und der Stärkste dabei ist. Dafür haben wir uns nicht entschieden. Und ich weiß auch nicht, ob wir den Stärksten hatten. Es ist nicht ganz einfach."

Letztlich ist ein Radrennen eben kompliziert und kein Computerspiel. Andererseits; Viel fehlte nicht und Boras Taktik wäre dann doch aufgegangen. Und alle vier Jahre ein zweiter Platz bei der DM ist schließlich alles andere als schlecht.

Maximilian Schachmann waren im Feld die Hände gebunden: “Wir hatten zwei Leute vorn. Einer davon als Kapitän – da fährt man nicht hinterher.“ | Foto: Cor Vos

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.06.2024Brenner: Selbstbewusst vom Super-Junior zur weißen Hose

(rsn) – Zwei Monate und vier Tage vor seinem 22. Geburtstag ist Marco Brenner (Tudor) am Sonntag in Bad Dürrheim zum jüngsten Deutschen Meister der Elite seit Gerald Ciolek 2005 in Mannheim geword

24.06.2024DM-Kampf um Bronze ohne echten Verlierer

(rsn) – “Ich kann mit dem Verlauf des Rennens sehr zufrieden sein“, das waren die Worte des drittplatzierten Kim Heiduk (Ineos Grenadiers) gegenüber RSN im Ziel der Deutschen Meisterschaft in B

23.06.2024Highlight-Video der Deutschen Straßenmeisterschaften der Männer

(rsn) – Marco Brenner (Tudor) hat bei den Deutschen Meisterschaften die Siegesserie von Bora – hansgrohe beendet und sich erstmals in seiner Karriere den Titel im Straßenrennen der Männer gesich

23.06.2024Ethan Hayter holt Titel für Ineos zurück, Hajek lässt Bora jubeln

(rsn) – Die vorletzte Juniwoche ist den Nationalen Meisterschaften vorbehalten. Zunächst standen die Wettbewerbe im Zeitfahren an, ehe nun die Straßenrennen folgen. Wir liefern hier eine Zusammen

23.06.2024Olympia-Kandidaten neutralisierten sich bei DM gegenseitig

(rsn) – Zwar dominierte die frühe Ausreißergruppe um den späteren Deutschen Meister Marco Brenner (Tudor) das Straßenrennen von Bad Dürrheim, doch auch die Nominierung der fünf deutschen Olymp

23.06.2024Video-Interviews zum DM-Titelkampf der Männer

(rsn) – Das Straßenrennen der Männer bei den Deutschen Meisterschaften 2024 in Bad Dürrheim war schon früh vorentschieden: Bereits 180 Kilometer vor dem Ziel, am ersten Anstieg des Tages, setzte

23.06.2024Jan Ullrich bei der DM in Bad Dürrheim willkommen

(rsn) - Die Deutschen Meisterschaften in Bad Dürrheim waren auch so etwas wie das Comeback von Jan Ullrich in der Radsport-Familie. Überall, wo der bislang einzige deutsche Toursieger sich im Zielbe

23.06.2024Van den Broek-Blaak, Kiesenhofer und Kopecky holen Titel

(rsn) – Die vorletzte Juniwoche ist den Nationalen Meisterschaften vorbehalten. Zunächst standen die Wettbewerbe im Zeitfahren an, ehe nun die Straßenrennen folgen. Wir liefern hier eine Zusammenf

23.06.2024Albrecht entthront in Bad Dürrheim Vorjahressieger Fietzke

(rsn) – Vorjahressieger Paul Fietzke (Team Grenke – Auto Eder) hat sich diesmal im Juniorenrennen der Deutschen Meisterschaften mit Silber zufrieden geben müssen. Der 18 Jahre alte Vizeweltmeiste

23.06.2024Bergauf der Stärkste: Marco Brenner erstmals Deutscher Meister

(rsn) – Marco Brenner (Tudor) hat bei den Deutschen Meisterschaften die Siegesserie von Bora – hansgrohe beendet und sich erstmals in seiner Karriere den Titel im Straßenrennen der Männer gesich

23.06.2024Frierende Lippert muss sich diesmal mit dem Vize-Titel begnügen

(rsn) – Großer Jubel bei strahlendem Sonnenschein im Vorjahr, frierend und von der Nässe gezeichnet diesmal: So groß war der Unterschied zwischen dem dritten Titelgewinn von Liane Lippert (Movist

22.06.20242 aus 5: Wessen Olympiaträume platzen in Bad Dürrheim?

(rsn) - In diesem Jahr geht es bei den Deutschen Meisterschaften nicht nur um das Trikot mit den schwarz-rot-goldenen Streifen. Auf den 209 Kilometern zwischen zwischen Donaueschingen und Bad Dürrhe

Weitere Radsportnachrichten

25.12.2024Auch Colombo und vier Kollegen verlassen Q36.5

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

25.12.2024Im Überblick: Die Transfers der Männer-Profiteams für 2025

(rsn) – Nachdem zahlreiche Transfergerüchte seit Monaten in der Radsportwelt zirkulieren, dürfen die Profimannschaften seit dem 1. August ihre Zu- und Abgänge offiziell bekanntgeben. Radsport

24.12.2024Der größte Sieg war jener über Long-Covid

(rsn) – Es war eine Saison voller Höhen und Tiefen für Marlen Reusser (SD Worx – Protime), wobei vor allem in der zweiten Saisonhälfte die Tiefe übernahm – und zwar komplett. Denn die Schwe

24.12.2024Top-Sprinter mit starkem Sinn für Realismus

(rsn) - Mit zwei Siegen und insgesamt 21 Top-Ten-Resultaten bei UCI-Rennen zeigte Phil Bauhaus (Bahrain Victorious) auch 2024, dass er zu den schnellsten Männern im Feld zählt. Mit seiner Saison w

24.12.2024Mit 36 Jahren noch immer einer der Besten

(rsn) – Seit vielen Jahren gehört Riccardo Zoidl (Felt – Felbermayr) zu den absolut besten Fahrern Österreichs. 2013 erlebte er seinen absoluten Durchbruch, wo er sich mit zahlreichen Rundfahrts

24.12.2024Hamilton bricht sich das Schlüsselbein bei Trainings-Crash

(rsn) – Chris Hamilton, Tim Naberman und Oscar Onley sind am letzten Tag des Dezember-Trainingslagers des Teams dsm-firmenich – PostNL, das ab Januar Picnic – PostNL heißen wird, gestürzt. Wä

24.12.2024Die Trikots der Women´s WorldTeams für die Saison 2025

(rsn) – Auch die Teams der Women’s WorldTour zeigen ihre Trikots für die Saison, teilweise in gemeinsamen Präsentationen mit ihren männlichen Kollegen. Den Anfang machte in diesem Winter das US

24.12.2024Horror-Jahr mit zwei Knie-OPs: “Ich saß weinend auf dem Rad“

(rsn) – Sie war gemeinsam mit Teamkollegin Antonia Niedermaier der Shootingstar im deutschen Frauen-Radsport und nach ihrem Tour-de-France-Etappensieg in Albi am 27. Juli 2023 die gefeierte Heldin.

24.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Frauen 2024

(rsn) - Wie bei den Männern so blicken wir traditionell am Jahresende auch auf die Saison der Frauen zurück und stellen die besten 15 Fahrerinnen unserer Jahresrangliste vor. Wir haben alle UCI-Ren

24.12.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste der Männer 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

23.12.2024Eine Saison, die keinen Grund zur Klage gab

(rsn) – Auch wenn er gegenüber RSN nicht von einer perfekten ersten Saisonhälfte sprechen wollte, so war Tim Torn Teutenberg (Lidl – Trek Future Racing) doch sehr nahe dran. Dazu wurden seine st

23.12.2024Van der Poel gräbt den Schatz am Silbersee aus

(rsn) – Am Zilvermeer in Mol hat Mathieu van der Poel (Alpecin – Deceuninck) bei seinem zweiten Saisoneinsatz den zweiten Sieg gefeiert. Dabei war der Weltmeister - obwohl er es in der Anfangsphas

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine