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17.02.2021 | „Jetzt fühle ich mich endlich wieder wie ein richtiger Mann!“ Dieser Satz kommt mir immer in den Sinn, wenn ich Beiträge von Radfahrer/innen - Amateure wie Profis - lese, die über ihre Probleme mit dem Essen berichten. Gesagt hat ihn einer der ersten Rad-Profis, mit dem ich gearbeitet habe, und er sagte ihn einige Monate nach dem Ende seiner Profi-Karriere. Er hatte wohl keine Essstörung - aber wir haben sehr oft über Essen und die Rolle des Gewichts im Radsport gesprochen. Und obwohl mittlerweile einige Jahre vergangen sind, hat er immer noch Probleme mit dem Gewicht.
Bereits während meines Ernährungs-Studiums an der University of Utah
hatte ich mich dem Thema Essstörungen im Radsport gewidmet, unter anderem in einer Studien-Arbeit. Ich war damals überrascht, wie wenige wissenschaftliche Beiträge es zu diesem Thema gab. Und Studien zu Essstörungen bei Männern im Radsport existierten fast keine, gerade einmal eine Handvoll kleiner Untersuchungen.
Lange wurde das Thema als eher weibliches Problem gesehen, und auch heute gibt es noch viele Aktive, die darüber hinwegsehen - oder die einfach nichts damit zu tun haben wollen. Dabei sind Essstörungen im Radsport weit verbreitet.
Blickt man auf die letzten Jahre zurück, gab es einige Fälle,
die in die Medien gekommen sind. Ich bin froh, dass mittlerweile immerhin darüber gesprochen wird. Leider ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt, wie weit verbreitet ungesundes Essverhalten im Sport ist.
Woher kommt es, dass viele Sportler/innen Probleme mit dem Essen haben? Der Radsport hat sich sehr stark weiterentwickelt. Mit der Einführung von Powermetern wird mehr Augenmerk auf die Watt-Zahlen gerichtet - damit hat auch die Power-to-Weight Ratio an Bedeutung gewonnen. Wer schneller den Berg hochkommen will, der braucht entsprechende Werte: Mehr Kraft, oder weniger Gewicht.
Manchen scheint es irgendwann leichter, abzunehmen
als die getretenen Watt zu verbessern. Und ein erster Gewichtsverlust führt bei vielen Sportler/innen nicht selten zu einer Leistungssteigerung - was den eingeschlagenen Weg der Gewichtsreduktion zu bestätigen scheint.
Manchmal gehen Radsportler/innen dann noch einen Schritt weiter, und essen noch etwas weniger, um noch bessere Werte zu bekommen. Das kann funktionieren - doch schnell findet man sich in einer Spirale, aus der man alleine nur noch schwer heraus kommt.
Anfangs hat man alles unter Kontrolle, aber irgendwann
gibt die Essstörung den Takt vor. Dann wird man vom Aktiven zum Passagier - und ist meist auf Hilfe angewiesen, um von diesem Zug wieder runterzukommen.
Doch der Radsport an sich begünstigt meiner Meinung nach die Entwicklung von gestörtem Essverhalten und schließlich Essstörungen. Man muss das eigene Körpergewicht den Berg hochbringen, da hat man als leichte/r Fahrer/in einen Vorteil. Und das Körperbild de/r Radfahrer/innen hat sich in den vergangenen sagen wir 30 Jahren nach meiner Beobachtung deutlich verändert.
Mit dem Fokus aufs Gewicht richtet sich beim Essen
die Aufmerksamkeit stark auf Kalorien und Gramm. Ich hatte und habe Spitzen- wie Hobby-Sportler/innen in der Beratung, die aufs Gramm genau wissen, was sie heute zum Frühstück gegessen haben - das hat nicht mehr viel mit gesundem Essverhalten zu tun.
Auch Sportler/innen müssen nicht jedes Gramm und jede Kalorie messen. Viele haben auch mit Süßigkeiten oder Snacks ihre Probleme, oft werden diese komplett gemieden. Bei manchen Extremfällen erzeugt schon die Scheibe Brot oder die Rippe Schokolade Stress, wird gar zum "Feind". Nicht wenige meiner Klienten sind dann überrascht, wenn sie auf ihren Ernährungsplänen auch genau diese angeblich schlechten, verbotenen Lebensmittel finden.
Meiner Meinung nach sollten Sportler/innen
vor Schokolade und ähnlichem aber nicht Angst haben, sondern sie genauso als Teil ihrer Ernährung sehen wie Salat oder Lachs.
Das umzusetzen verlangt von manchen viel Energie - aber das ist es wert. Für mich ist wenig schöner als zu sehen, wie meine Sportler/innen ohne Angst und ohne schlechtes Gewissen zu Schokolade oder Snacks greifen. Das ist für manche kein einfacher Schritt, und duchaus ein großer Sieg...
Nicht wenige Sportler/innen scheint ein restriktives
Essverhalten aber leider normal - oder es ist für sie schleichend normal geworden. Sie verlieren sich in Details, die eigentlich keinen Unterschied machen. Nicht zu vergessen: Gesundes Essen hat mit Genuss zu tun - den haben nicht wenige Sportler/innen verloren.
Meine Rolle ist auch zu zeigen, dass man ohne Kalorien-Zählen schlank und fit sein kann, und dass man nicht gleich zu schwer wird. Wir müssen im Peloton erreichen, dass die Fahrer/innen wieder Freude am Essen haben. Dass sie Essen als Potenzial sehen, als Chance, als Stärke - und nicht als "Feind", der nur dick macht.
Dabei gibt es durchaus Fahrer/innen, denen bewusst ist,
dass sie ein Problem haben. Jedoch sind viele damit erst im Nachhinein an die Öffentlichkeit getreten. Ich habe mit vielen Team-Ärzten zusammengearbeitet, die ein offenes Ohr für diese Probleme haben, mit denen man das Thema Essstörung ansprechen und in Angriff nehmen konnte. Die Fahrer/iInnen brauchen dabei viel Unterstützung, denn es kann sehr lange dauern, bis man wieder halbwegs normal und stressfrei isst.
Auch für den Körper dauert es oft lange, bis er wieder normal funktioniert. Bei Frauen etwa braucht das Problem Menstruationsstörung viel Zeit: Bei einer meiner Profi-Fahrerinnen hat es über ein Jahr gedauert, bis die Regelblutung wieder einsetzte. Und auch bei Männern gibt es Symptome, die eine Weile brauchen, bis sie wieder verschwinden - siehe der Einstiegs-Satz hier oben.
Für viele Fahrer/innen ist es nicht einfach,
sich mit dem Problem
Essstörung an andere zu wenden: Wem sagt man es? Wird man deswegen den Startplatz verlieren? Wer gesteht schon gerne, dass er/sie ein Problem mit dem Essen hat? Ich merke in der Betreuung, dass es bei manchen relativ schnell geht, andere brauchen länger.
Wir setzen uns Ziele, arbeiten uns Schritt für Schritt vor - und Fehltritte sind erlaubt. Von mir gibt es keinen Druck, denn die Fahrer/innen machen sich selbst meist zu großen Druck. Sie erwarten von sich, dünn und leistungsfähig zu sein - häufig zerbrechen sie daran. Diesen Druck muss man ihnen nehmen, vor allem bei den Profis: Hier ist der Druck besonders groß.
Ich frage ich mich auch immer wieder,
woher das Problem eigentlich kommt. Essstörungen gibt es nicht erst seit gestern - aber wir haben uns dem im Sport bisher zu wenig gestellt. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass manche immer noch nicht realisiert haben, wie ernst die Lage ist. Besonders im Nachwuchs versuchen viele Fahrer/innen, mit den unmöglichsten und ungesündesten Methoden Gewicht zu verlieren. Viele wollen abnehmen, aber sie wissen nicht, wie sie es machen sollen.
Gerade die jungen Fahrer/innen bräuchten dabei Hilfe –
aber Hilfe über das Gewichts-Management hinaus: Nicht nur, wie man abnehmen kann, ob man nüchtern fahren soll. Sondern auch daran denken, was der Körper eigentlich braucht und wozu Ernährung in erster Linie da ist.
Bedenklich finde ich auch, dass wir mittlerweile
immer mehr Bilder von sehr dünnen Profis sehen. Das motiviert natürlich auch junge Talente, so zu werden. Würden wir im Nachwuchs mehr über Ernährung sprechen, und unseren Sporter/innen erklären, warum ausreichende Energiezufuhr wichtig ist, würden wir weniger solche Fälle sehen.
Viele informieren sich im Internet, hören von Mannschaftskamerad/innen, wie sie abgenommen haben, und probieren es dann auf eigene Faust. Wir bräuchten in den Vereinen und
Verbänden Leute, die unsere Sportler/innen dabei unterstützen - und sie vor Problemen wie einer Essstörung schützen. Wer versteht, wie Energie und Leistung zusammenhängen, wird es sich genau überlegen, ob er/ sie hungrig aufs Rad steigt, um einige Stunden nur mit Wasser zu fahren.
Ich denke, es ist wichtig, schon dem Nachwuchs
Input zur richtigen Sporternährung zu geben, und nicht ständig über Fettstoffwechsel-Training und ähnliches zu reden. Ich bin glücklich, dass ich das bei meinen Nachwuchsfahrern kann - und es ist schön zu sehen, wie sie sich auch mit "normaler" Ernährung gut weiterentwickeln.
Judith Haudum ist Sport- und Ernährungs-Wissenschaftlerin sowie Gründerin des Beratungs-Instituts "sportnutrix" in Hallein im Salzburger Land. Sie arbeitet mit diversen UCI-WorldTour- und Women's-WorldTour-Fahrer/innen, dem Österreichischen Radsport-Verband und weiteren Sportverbänden. Judith berichtet exklusiv auf radsport-news.com alle zwei Wochen über neue Erkenntnisse aus der Sporternährung.
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