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13.10.2016 | (rsn) - Als Tony Martin nach 40 Kilometern vom Lusail-Sportkomplex durch die Wüste auf die Pearl im Ziel ankam, leuchtete die 1 auf. Der 31-Jährige war mit mehr als einer Minute Vorsprung auf den Spanier Jonathan Castroviejo Bestzeit gefahren. Das wusste er. Und als er am Ende der Auslaufzone vom Rad stieg, um sich auf einen kleinen Plastikstuhl unter einem großen Sonnenschirm zu setzen, wo ihn seine Betreuer verpflegten, versammelte sich sofort eine Horde wild gewordener Fotografen um ihn. Sie alle wussten, dass Titelverteidiger Vasil Kiryienka an der letzten Zwischenzeit zurücklag und dass der Weißrusse weiter abbaute. Martin aber wusste das nicht.
"Ich hatte keine Zeiten, wusste nicht, wie groß mein Vorsprung war", erklärte Martin radsport-news.com später. Also saß er da, strahlte ob seiner bärenstarken Leistung, die ihm keiner mehr nehmen konnte, dachte aber noch nicht daran zu jubeln. Es näherten sich immer mehr Leute, die versicherten: "Es reicht! Kiryienka ist schon zu weit zurück." Doch Mechaniker Guido Scheeren hielt seinem Schützling den Rücken frei, beruhigte die Umstehenden: "Abwarten. Er ist noch nicht im Ziel."
"Wer weiß, was die Anderen noch auspacken. Deswegen wollte ich wirklich warten, bis der Letzte auch im Ziel ist. Ich bin ein vorsichtiger Typ, der den Tag lieber nicht vor dem Abend lobt. Natürlich wusste ich, dass ich eine gute Performance abgeliefert hatte, aber gefeiert wird eben erst, wenn der letzte Fahrer im Ziel ist", so Martin später. Während die Zuschauer zuhause am Fernseher sehen konnten, dass Kiryienka schon weit vor dem Ziel Martins Bestzeit deutlich verpassen würde, saß der nun frisch gebackene Weltmeister da und wartete auf die Bestätigung eines UCI-Vertreters, der per Funk die Zielzeit des Weißrussen durchgegeben bekommen würde.
Fast eine Minute, nachdem die Fans vor dem Fernseher wohl bereits gejubelt haben dürften und während Kiryienka nach seiner Zieldurchfahrt ausrollte, kam endlich die Bestätigung. Der UCI-Mann schaute Martin an, nickte und sagte nur ein Wort: "Ja." Dann brachen alle Dämme. Laut jubelnd sprang der nun viermalige Zeitfahrweltmeister auf und in die Arme seiner engsten Betreuer aus gemeinsamen Etixx-Quick-Step-Zeiten. Es schienen riesige Lasten von Martins Schultern abzufallen.
"Ich hatte bis Sonntag kein gutes Jahr. Aber in meinem vorletzten Rennen der Saison jetzt Weltmeister zu werden, ist unglaublich. Das macht alles vergessen, was in der Saison passiert ist", freute sich Martin im ersten Siegerinterview live im Fernsehen einige Minuten später über sein drittes Weltmeister-Double aus Team- und Einzelzeitfahren. "Es ist großartig und wird mir viel Kraft für nächstes Jahr geben."
Was folgte, war eine Siegerehrung vor einmal mehr weniger Zuschauern (73 zählte ein Kollege) als Offiziellen und Reportern, sowie der obligatorische Interview-Marathon in der Mixed Zone und die anschließende Pressekonferenz. Zurück im Hotel gab es im für das deutsche Team reservierten Speisesaal, wie immer, die von BDR-Koch Eros gebackene Weltmeister-Torte, bevor der Abend mit den Kollegen aus dem Straßenteam in der Admiral's Bar neben dem Ritz Carlton ein gemütliches Ende fand.
"Es war so viel los mit der Siegerehrung und der Presse: Ich konnte noch gar nicht in mich gehen. In der Regel braucht es eins, zwei Tage in denen ich für mich bin, vielleicht auch auf dem Rad für mich bin und das Rennen nochmal analysieren und die Momente nochmal genießen kann", sagte Martin radsport-news.com in der Mixed Zone auf die Frage, ob er denn überhaupt schon realisiert habe, dass er gerade zum vierten Mal Zeitfahrweltmeister geworden war. "Aktuell ist es einfach nur eine Genugtuung mit dem Wissen, dass ich das Trikot zurückerobert habe und auch im kompletten nächsten Jahr tragen darf."
Darum geht es ihm: um dieses wunderschöne weiße Trikot mit den Regenbogenstreifen, das er nun auch zum Auftakt der Tour de France 2017 in Düsseldorf wird tragen dürfen. Dort, wo er es dann am liebsten am nächsten Tag gegen ein Gelbes Leibchen einlösen würde. Doch das sind Zukunftsgedanken. An diesem 12. Oktober in Doha war erstmal eines wichtig: Tony Martin ist wieder da. Und wie.
Tony Martin im Interview: