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18.05.2017 | (rsn) - Vor dem Giro d’Italia 1998 waren die Favoriten auf den Gesamtsieg schnell ausgemacht: Die Gewinner der beiden Vorjahre, Ivan Gotti und Pavel Tonkov, der Gewinner der Spanien-Rundfahrt 1996 und 1997, Alex Zülle, sowie Marco Pantani, der bei Giro und Tour de France insgesamt bereits dreimal auf dem Podest gestanden hatte. Besonders gespannt waren die Beobachter auf das Duell zwischen Zeitfahr-Ass Zülle und Kletter-Star Pantani.
Der "Pirat“ war im Jahr zuvor endlich von seiner langen Verletzungspause nach einem katastrophalen Unfall bei Mailand-Turin wieder in die Weltspitze zurückgekehrt. Zwar musste er beim Giro 1997 wegen eines erneuten Sturzes – ein Hund war ihm ins Rad gelaufen – aufgeben, doch im Juli wurde Pantani Dritter der Tour und war als einziger in der Lage gewesen, Jan Ullrich am Berg Zeit abzunehmen.
In der ersten Hälfte des Giro 1998 wirkte allerdings Zülle unantastbar, fuhr mehrere Tage lang in Rosa. Im Prolog und auf den ersten hügligen Abschnitten nahm der Schweizer seinen Kontrahenten Zeit ab und lag vor der ersten Bergankunft fast eine Dreiviertelminute vor Pantani. Auf dem Weg hinauf zum Piancavallo, wo jene 14. Etappe endete, nahm der Kletterspezialist zwar Zülle und Tonkov 13 Sekunden ab. Doch angesichts zweier anstehender Zeitfahrprüfungen wurde dieses Ergebnis als Erfolg des Schweizers gewertet, der an jenem Tag wieder das Rosa Trikot übernahm.
Gotti verlor an diesem Tag früh den Anschluss und büßte viel Zeit ein. Anschließend stieg der Saeco-Profi aus – von Beginn an war Gotti in der Defensive gewesen, seinen angriffslustigen Fahrstil konnte er nie zeigen. Dann kamen Verdauungsprobleme hinzu. Das Jahr 1998 war eines zum Vergessen für den Italiener.
Also waren noch drei Favoriten übrig. Vor dem Zeitfahren auf der 15. Etappe lag Zülle 22 Sekunden vor Pantani und 40 Sekunden vor Tonkov. Im Kampf gegen die Uhr spielte der Festina-Mann seine Qualitäten voll aus, nahm Tonkov anderthalb und Pantani dreieinhalb Minuten ab. In Anbetracht seiner Stärke in den Bergen der Vuelta und auch bei der Tour de France 1995, wo Zülle Zweiter geworden war, wettete kaum noch jemand auf Pantani oder Tonkov.
Andererseits: Die ganz schweren Etappen folgten erst noch. Das 17. Teilstück leitete die entscheidende Phase des Giro ein – von Asiago nach Wolkenstein mussten die Profis auf 215 Kilometern unter anderem den Passo Fedaia und den Passo Sella hinauf. Am Fedaia griff Tonkov an, Pantani konterte trocken, und nur Giuseppe Guerini konnte mitgehen. Oben an der Marmolada hatten die beiden Kletterer das Feld komplett zerpflückt, Zülle war noch weiter zurück als Tonkov. Am Schluss hatte der Schweizer viereinhalb Minuten verloren, Tonkov ließ zwei Minuten liegen. Den Tagessieg überließ der neue Mann in Rosa seinem Begleiter Guerini.
Noch war Zülle angesichts einer Minute Abstand zu Pantani nicht abzuschreiben, und auch die folgende Bergankunft in Alpe di Pampeago brachte noch keine Vorentscheidung. Zülle büßte abermals eine Minute ein, und Tonkov biss sich an Pantanis Hinterrad fest, um ihn im Zielsprint noch zu überflügeln und dem "Piraten“ zumindest eine Sekunde und zwei weitere Sekunden Zeitbonifikation abzuknöpfen.
Pantani musste folglich die letzte Bergankunft nutzen, um sich vor dem zweiten Zeitfahren zwei Tage später ein ausreichendes Polster auf Zülle, der gut zwei Minuten zurück lag, und Tonkov, der nur 27 Sekunden Abstand aufwies, herauszufahren. Der Schweizer brach auf dem 243 Kilometer langen und mit zwei Pässen gespickten Weg zum Plan di Montecampione allerdings komplett ein, kam dort erst eine halbe Stunde nach dem Tagessieger an. So entwickelte sich ein Duell, besser gesagt: ein Drama zwischen Pantani und Tonkov.
Die erste Attacke setzte der Kolumbianer Chepe Gonzalez, doch wieder hatte Pantani die bessere Antwort, und diesmal konnte nur Tonkov folgen. Guerini ließ abreißen und konzentrierte sich darauf, seinen dritten Gesamtrang abzusichern. Tonkov blieb mit versteinerter Miene an Pantanis Hinterrad, der immer wieder den Rhythmus wechselte, seinen russischen Schatten aber nicht los wurde.
Fleißig wurde gerechnet: Im ersten, 40 Kilometer langen Zeitfahren hatte Tonkov Pantani zwei Minuten abgeknöpft. Eine halbe Minute hatte der Italiener schon an Vorsprung – die letzte Prüfung gegen die Uhr würde etwas kürzer sein. Dennoch: Um seine gute Ausgangsposition zu haben, sollte Pantani Tonkov mindestens eine Minute abknöpfen. Je länger der Giro-Sieger von 1996 aber bei seinem Widersacher blieb, desto unwahrscheinlicher wurde dies - zumal Tonkov auch am Vortag keine Zeit eingebüßt hatte.
Die Anekdoten zu diesem Duell sind zahlreich. Pantani soll am Berg seine Sonnenbrille, seine Mütze und eine Kette weggeworfen haben, um Gewicht zu sparen. Und aus Tonkovs Lager war später zu hören, dass er auf eine Trinkflasche verzichtete, die ihm kurz vor dem 20 Kilometer langen Schlussanstieg angeboten worden war. Ob das stimmt, ist ungewiss, zumal am letzten Berg zunächst noch eine Flasche in Tonkovs Halter steckte. In der zweiten Hälfte hatte der Russe an diesem warmen Juni-Tag dann aber tatsächlich nichts mehr zu trinken.
Doch er klebte weiter ohne erkennbare Schwäche an seinem Herausforderer, den er kaum einmal in der Führungsarbeit ablöste – da konnte Pantani gestikulieren, wie er wollte. 2000 Meter vor dem Ziel waren die Fingernägel der Tifosi wohl bis aufs Fleisch herunter gekaut, und noch immer hielt Tonkov, der wegen seiner stoischen Mimik den Spitznamen Sphinx trug, tapfer mit. 1500 Meter vor Schluss wackelte er dann erstmals, und es tat sich eine Lücke auf. Als Pantani das merkte, trat er nochmals an.
Doch was konnte „il pirata“ auf anderthalb Kilometern schon noch herausfahren? 20, maximal 30 Sekunden vielleicht. Das würde für den Giro-Sieg wohl kaum reichen. Doch Tonkov brach ein und stand für einige Momente beinahe still. Auf dem kurzen Schlussstück verlor der Mapei-Kapitän tatsächlich fast eine Minute auf Pantani, der auch die am Tag zuvor eingebüßten Bonifikationssekunden zurückholte. Mit 1:28 Minuten Vorsprung würde der Italiener in den finalen Kampf gegen die Uhr gehen.
Was all die Rechnereien am Montecampione wert waren, zeigte sich während der 34 Kilometer langen, welligen Prüfung zwischen Mendrisio und Lugano. Pantani büßte nicht etwa Zeit ein, sondern distanzierte Tonkov um fünf Sekunden. Nur Tagessieger Sergei Gontchar war um 30 Sekunden, Teamkollege Massimo Podenzana um eine Sekunde schneller als der Mann in Rosa. Zülle verlor in seinem Heimatland sogar eine Minute auf Pantani.
Trotz dieses kuriosen Resultats war der entscheidende Faktor das Duell am Montecampione, am Berg der Champions. Tonkov konnte dort nicht anders, er musste versuchen, Pantanis Willen zu brechen und so lange wie möglich an dem Italiener dran bleiben. Mit Taktik, weggeworfenen Brillen und vergessenen Trinkflaschen, lässt sich Tonkovs Niederlage – sein Team sagte, er habe kurz vor einem Hitzeschlag gestanden – nicht erklären. Im Kampf zweier Champions hatte sich einer als stärker erwiesen und den anderen mit aller Gewalt besiegt. So einfach ist das manchmal – und so spektakulär.
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