Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Mortirolo 1994 - die Geburtsstunde des Piraten

Von Guido Scholl

Foto zu dem Text "Mortirolo 1994 - die Geburtsstunde des Piraten"
Marco Pantani | Foto: Cor Vos

05.05.2017  |  (rsn) - Der Giro d’Italia 1994 markierte einen Wendepunkt für die Tifosi. Mit Marco Pantani ging ein Stern am Radsporthimmel auf, der die der übrigen Idole der italienischen Fans – allen voran Claudio Chiapucci und Gianni Bugno – deutlich überstrahlte. Dabei kopierte „il pirata“, dessen Spitzname anfangs wegen seiner abstehenden Ohren noch „Elefantino“ lautete, eigentlich exakt den Fahrstil seines Kapitäns beim Carrera-Team. Das war eben jener Chiapucci, seines Zeichens zweimal Zweiter sowohl beim Giro als auch bei der Tour de France. Pantani griff ohne Rücksicht auf jegliche Taktik an, wo immer es ihm gerade passte.

Bei der Italien-Rundfahrt 1994 sollte eigentlich der sieben Jahre ältere Chiapucci noch einmal den Versuch unternehmen, eine Grand Tour zu gewinnen. Bis dahin standen ihm Greg Lemond und Miguel Indurain vor der Sonne. Als Chiapuccis logischer Nachfolger galt das Kletter-Juwel Pantani, der aber bei seiner zweiten Giro-Teilnahme noch vom Altmeister lernen sollte. Dann kam die 15. Etappe von Merano nach Aprica: Auf 188 Kilometern mussten die Profis an jenem 5. Juni das Stilfser Joch, den Mortirolo und den Schlussanstieg nach Valico di Santa Cristina hinauf. Die Königsetappe – ohne jeden Zweifel.

Am Tag zuvor hatte Pantani bereits das Teilstück über fünf Berge mit Ziel in Merano gewonnen, wobei er sich jedoch erst in der letzten Abfahrt von einer noch recht großen Hauptgruppe löste und den bis dahin führenden Pascal Richard abhängte. Am Mortirolo erwarteten viele Experten, dass Pantani als Gegenleistung für die erteilte Freiheit am Vortag nun für seinen Kapitän Chiapucci arbeiten würde. Doch als der „Pirat“ in den ersten steilen Kehren das Tempo hoch riss, war von „il diabolo“ nichts mehr zu sehen. Auch Indurain musste abreißen lassen, und nur der in Rosa fahrende Dominator jenes Giro, Jewgeni Berzin, krallte sich für einige Zeit noch an Pantanis Hinterrad.

Auch damit war es bald vorbei und Berzin zahlte ein hohes Lehrgeld – zwei Tage nach seinem 24. Geburtstag unterlief dem Russen der einzige taktische Fehler dieser Italien-Rundfahrt. Indurain hatte seine Kräfte an dem mörderisch steilen Mortirolo, an dem es keine Erholungsmöglichkeit gibt, deutlich besser eingeteilt. Er kam zurück zu Berzin und hängte ihn ab. Auf dem Weg ins Tal gelang es dem Spanier sogar, wieder zu Pantani aufzuschließen. Es bildete sich eine Spitzengruppe mit Chiapucci, Nelson Rodriguez und Wladimir Belli.

Im Anstieg zum Ziel, der erheblich schwerer als der heute in aller Regel gewählte Weg nach Aprica war, musste dann aber auch Indurain den Anstrengungen am Mortirolo Tribut zollen. Pantani griff an, der Sieger der beiden vorherigen Giri wurde immer langsamer, so dass auch Chiapucci irgendwann wegfuhr. Indurain steckte in einer Krise und musste befürchten, dass Berzin von hinten wieder aufschloss.

Pantani hingegen eilte einem überlegenen Sieg entgegen. Am Ende überquerte er den Zielstrich mit 2:52 Minuten Vorsprung auf Chiapucci, der damit endgültig die Kapitänsrolle los war. Indurain büßte 3:30 Minuten ein und rettete wenigstens noch 36 Sekunden gegenüber Berzin, der mit Udo Bölts am Hinterrad als Sechster ins Ziel rollte.

Pantani war an allen vor ihm Platzierten vorbeimarschiert - außer am Mann in Rosa, der noch 1:18 Minuten Vorsprung hatte. Indurain lag 3:03 Minuten zurück, war aber keineswegs abgeschrieben - ein 35-Kilometer langes Zeitfahren mit Ankunft am Passo del Bocco stand noch bevor. Jene 18. Etappe gilt daher als eigentlicher Durchbruch Pantanis. Denn dass er ein Kletterer mit enormen Möglichkeiten war, hatte die Fachwelt längst erkannt. Doch in diesem Zeitfahren, dessen erster Teil flach war, verlor der kleine Italiener gegenüber dem damals dominierenden Zeitfahrer Indurain nur 1:17 Minuten und behauptete Gesamtrang zwei um 32 Sekunden. Nur Berzin war um 20 Sekunden schneller als „Big Mig“. Sollte dem Jungprofi tatsächlich auf Anhieb gelingen, was Chiapucci nie vergönnt gewesen war? Würde er am Ende einer Grand Tour auf dem Podest vor Indurain stehen? Berzin schien mit 2:52 Minuten Vorsprung zu weit enteilt. Doch Pantani wäre nicht Pantani gewesen, hätte er es nicht zumindest probiert, auch den Russen aus dem Sattel zu heben, ohne lange darüber nachzudenken, ob ihn dies Platz zwei kosten könnte.

Auf der 20. Etappe mit Ziel in Les deux Alpes setzte sich „il pirata“ am Colle d’Agnello gemeinsam mit Alvaro Mejia, Jose-Luis Arrieta, Hernan Buenahora und weiteren Fahrern ab. Den Col d’Izoard überquerte der neue Star mit knapp zwei Minuten Vorsprung auf die Gruppe Rosa, nur noch Buenahora hing an seinem Hinterrad. Berzin konnte an jenem Tag von Glück sagen, dass Moreno Argentin einen Sahnetag erwischt hatte und den gesamten Izoard von vorn fuhr. Mehr Helfer hatte das Gewiss-Team in jenem Etappenstadium nicht mehr dabei.

Doch in der Anfahrt zum Col du Lautaret ließ sich Pantani einholen, weil hinten weitere Teams in die Nachführarbeit eingestiegen waren. Buenahora fuhr allein weiter. Als der Gesamt-Zweite im Anstieg zum Lautaret nur noch am Ende der Favoritengruppe klemmte, schien es so, als habe er sich verpokert. Würde es ihm nun so ergehen wie Chiapucci bei der Tour 1990, als der im Gelben Trikot fahrend Greg Lemond auf der letzten Pyrenäenetappe früh attackierte und schließlich böse einbrach? Nein: Pantani blieb bis zum Finale bei Berzin und Indurain, überstand auch die letzte, lange Tempoverschärfung des Spaniers und gewann sogar noch den Sprint um Platz sieben. Die Etappe hatte Vladimir Poulnikov gewonnen, Buenahora war auf Rang sechs angekommen – vier Sekunden vor Pantani.

Nach dieser Vorstellung des „Piraten“ standen die Tifosi endgültig Kopf. Auch wenn Pantani den Giro nicht gewann – auf der folgenden, letzten Bergetappe kamen die Top drei zeitgleich ins Ziel, Chiapucci verbesserte sich noch auf den fünften Platz – so schien dieser erstaunliche junge Mann am Berg tun und lassen zu können, was ihm gefiel. Pantani schien nie müde zu werden und mit der Aggressivität eines Champions ausgestattet zu sein. Kein Wunder, dass Carrera fortan auf Pantani setzte, der im Juli gleich auch bei der Tour auf Rang drei fuhr – Gesamtsieger wurde da aber Indurain.

Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro d’Italia maßgeblich. Doch auch in der jüngeren Historie der Italien-Rundfahrt findet sich jede Menge Stoff für weitere Kapitel. radsport-news.com lässt anlässlich des Giro-Jubiläums einige dieser geschichtsträchtigen Momente wieder aufleben.

 

Mehr Informationen zu diesem Thema

27.05.2017Ganz groß in der zweiten Reihe

(rsn) - Die jüngere Geschichte des Giro d’Italia war eng verknüpft mit Namen wie Marco Pantani, Ivan Gotti, Gilberto Simoni, Jewgeni Berzin und Pavel Tonkov. Im elften und letzten Kapitel dieser R

26.05.2017Die Revolte des kleinen Prinzen

(rsn) - Bei der Italien-Rundfahrt 2004 erwartete das Publikum den erneuten Zweikampf zwischen Gilberto Simoni und Stefano Garzelli, die sich bereits im Jahr zuvor duelliert hatten. Simoni hatte deutli

25.05.2017Die Stunde des Stellvertreters

(rsn) - Die Ausgangslage vor dem Giro d’Italia 2000 war aus mehrerlei Gründen spannend. Die Italiener fieberten einerseits der Rückkehr des 1999 wegen zu hohen Hämatokritwerts ausgeschlossenen Ma

22.05.2017Gottis großes Ding

(rsn) - Vor dem Giro d´Italia 1997 war kein glasklarer Favorit auszumachen – hinter jedem der Anwärter auf den Gesamtsieg stand ein kleineres oder größeres Fragezeichen. Das kleinste war sicherl

19.05.2017Die zehn rosaroten Tage von "Opa“ Heppner

(rsn) - Einen wechselhafteren Giro als jenen des Jahres 2002 hat es wohl nie vorher und auch nie mehr danach gegeben. Ein Favorit nach dem anderen wurde entweder aus dem Rennen genommen, brach in den

18.05.2017Showdown am Berg der Champions

(rsn) - Vor dem Giro d’Italia 1998 waren die Favoriten auf den Gesamtsieg schnell ausgemacht: Die Gewinner der beiden Vorjahre, Ivan Gotti und Pavel Tonkov, der Gewinner der Spanien-Rundfahrt 1996 u

15.05.2017Ullrichs ungewollte Abschieds-Gala

(rsn) - Im Jahr 2006 bestritt Jan Ullrich seinen zweiten und letzten Giro d’Italia. Es sollte sein vorletztes Profirennen überhaupt sein. Und er verabschiedete sich mit einem sensationellen Sieg vo

08.05.2017Ein Taktik-Fuchs und zwei Streithähne

(rsn) Die 1995er-Auflage des Giro d´Italia erlebte den ganz großen Auftritt des Schweizers Tony Rominger, war aber ebenso geprägt vom Streit der Gewiss-Kapitäne Jewgeni Berzin und Piotr Ugrumov.

07.05.2017Als den Panta-Tifosi das Herz brach

(rsn) - Der Giro d´Italia 1999 sollte zur großen Show des Marco Pantani werden. Doch anstelle einer Gala entwickelte sich das Rennen zum Drama, das im Rückblick die Tragödie einleitete, in deren V

04.05.2017Schnee am Gavia - der Tag, an dem die großen Männer weinten

(rsn) - Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro dâ

Weitere Radsportnachrichten

02.02.2025“Zurück im Freien“ - Evenepoel trainiert wieder auf der Straße

(rsn) – Remco Evenepoel hat fast zwei Monate nach seinem Trainingsunfall Anfang Dezember erstmals wieder im Freien mit dem Rad trainiert. Knapp 65 Kilometer mit 413 Höhenmetern fuhr der Zeitfahr-We

02.02.2025UCI veröffentlicht Cross-Weltcup-Kalender 2025/2026

(rsn) - Am Rande der Cross-Weltmeisterschaften in Liévin hat der Radsport-Weltverband UCI den Kalender für den Cross-Weltcup 2025/2026 bekanntgegeben. Große Veränderungen zu der abgelaufenen Saiso

02.02.2025Brand: “Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“

(rsn) – Besonders glücklich sah Lucinda Brand nach ihrem zweiten Platz bei den Cross-Weltmeisterschaften im französischen Liévin nicht aus. Mürrisch, ja beinahe weinend nahm sie auf dem Podium d

02.02.2025Ferron mit dem besten Timing an der Uni zum Marseillaise-Sieg

(rsn) – Valentin Ferron hat den 46. Grand Prix de La Marseillaise (1.1) gewonnen. Der 26-jährige Franzose setzte sich nach 164,2 Kilometern im Sprint eines rund 35-köpfigen Fahrerfeldes durch, das

02.02.2025Regenbogenrekord! Van der Poel macht überlegen den siebten Titel klar

(rsn) – Mit sieben WM-Titeln im Cyclocross war Erik de Vlaeminck 52 Jahre lang Rekordhalter, nun muss er diese Bestmarke mit Mathieu van der Poel teilen. Der Niederländer brauchte in Liévin wenige

02.02.2025UCI verbietet wiederholte Kohlenmonoxid-Einatmung

(rsn) – Ab dem 10. Februar 2025 wird die wiederholte Einatmung von Kohlenmonoxid per UCI-Regularien verboten sein. Das teilte der Radsport-Weltverband in einer Pressemitteilung am Rande der Cross-We

02.02.202599 Fluchtkilometer: Lipowitz macht aus Trofeo Palma hartes Training

(rsn) – Florian Lipowitz (Red Bull – Bora – hansgrohe) hat die auf Sprinter ausgerichtete Trofeo Palma (1.1) zum Abschluss der Mallorca Challenge zwar nicht gewonnen - das tat der Portugiese Iur

02.02.2025Bahn-Olympiasieger Leitao düpiert die Sprinter in Palma

(rsn) – Iúri Leitao hat am letzten Tag der Mallorca Challenge einen überraschen Sieg für sein Team Caja Rural – Seguros RGA eingefahren. Der 26-Jährige setzte sich 400 Meter vor der Ziellinie

02.02.2025Bäckstedt verteidigt souverän ihr Regenbogentrikot

(rsn) – Topfavoritin Zoe Bäckstedt hat ihren U23-Titel bei der Cross-WM in Liévin verteidigt. Nach einer Auftaktrunde, in der sie sich viele technische Fehler leistete, fuhr die Britin ihrer Konku

02.02.2025Agostinacchio stürmt mit gebrochenem Schuh zum WM-Titel

(rsn) – Ein Jahr nachdem Stefano Viezzi in Tabor das Regenbogentrikot bei der Cross-WM der Junioren nach Italien geholt hatte, ist in Liévin mit Mattia Agostinacchio erneut ein Mann in einem azurbl

02.02.2025Schmid macht es wie 2023 und diesmal klappt es mit dem Sieg

(rsn) – Mauro Schmid (Jayco – AlUla) hat beim Cadel Evans Great Ocean Road Race zu Ende gebracht, was er an selber Stelle vor zwei Jahren begonnen hatte: Der Schweizer Meister sicherte sich mit ei

01.02.2025Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum RSN-Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir über d

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine