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26.05.2017 | (rsn) - Bei der Italien-Rundfahrt 2004 erwartete das Publikum den erneuten Zweikampf zwischen Gilberto Simoni und Stefano Garzelli, die sich bereits im Jahr zuvor duelliert hatten. Simoni hatte deutlich die Oberhand behalten – doch der Sieger des Jahres 2000 gewann im Vorfeld des Giro die Aragon-Rundfahrt und eine Etappe der Tour de Romandie. Garzellis Form schien zu stimmen. Doch kaum ein Experte hatte Damiano Cunego auf der Rechnung, der als Simonis Helfer vorgesehen worden war, dann jedoch seinen größten Sieg einfahren sollte.
Im Jahr zuvor hatte Cunego bereits wertvolle Arbeit für Simoni geleistet und den Giro auf Rang 34 beendet. Jetzt ging der 22-Jährige als Sieger der Trentino-Rundfahrt ins Rennen und bewies in jenem Frühjahr außerdem seine Spurtqualitäten bei mehreren Eintagesrennen. Daher wunderte sich kaum jemand, dass Cunego gleich am dritten Tag eine mittelschwere Bergetappe aus einer Gruppe mit allen Favoriten gewann.
Bereits das nächste Teilstück endete mit einer Bergankunft, wo Simoni seine Klasse bewies, indem er den Tagessieg und das Rosa Trikot holte. Zweiter aber wurde Cunego, nur 15 Sekunden hinter seinem Chef. Jetzt begannen die Diskussionen, wenn auch noch recht zaghaft: Würde Cunego Simoni bei Saeco als Kapitän beerben - irgendwann? Befeuert wurden solche Gedankenspiele, die in der italienischen Presse reichlich hemmungslos ausgebreitet wurden, als Cunego vier Tage später die mäßig steile Bergankunft am Montevergine für sich entschied und Simoni um zehn Sekunden das Rosa Leibchen entriss.
Im Team Saeco spielten sie die Situation herunter. Das sei nicht vergleichbar mit der Geschichte des einstigen Telekom-Duos Bjarne Riis/Jan Ullrich, aus der der Deutsche 1997 als der Stärkere hervorgegangen war. Der Altersunterschied war mit gut zehn Jahren in etwa genauso groß wie jener von Ullrich zu Riis. Doch Teamchef Claudio Corti sagte rundheraus: Die schweren Etappen mit mehreren hohen Bergen kommen noch, und dort wird Simoni von Cunego unterstützt. Punkt. Außerdem müsse zunächst einmal die Konkurrenz besiegt werden, die vor allem im Zeitfahren im Vorteil sein würde.
In der Tat: Der 52 Kilometer lange Kampf gegen die Uhr auf der 13. Etappe wurde zur Beute Sergej Gontchars, der Bradley McGee um 18 Sekunden und Jaroslaw Popovych um 34 Sekunden distanzierte. Popovych übernahm die Gesamtführung, Gontchar und McGee folgten auf den Rängen dahinter. Vierter war nun Simoni, der Cunego immerhin 31 Sekunden abgeknöpft hatte. Zwei weitere Flachetappen gingen vorüber, ehe sich die forschen Worte des Saeco-Teamchefs nachträglich als reine Lippenbekenntnisse erwiesen.
Denn die 16. Etappe mit Ziel in Falzes und vier schweren Bergen sollte ja nun eigentlich das Terrain sein, auf dem sich Simoni Rosa zurückholt. Zur Gruppe des Tages, wo Fabian Wegmann den Grundstein für den Gewinn der Bergwertung in jenem Jahr legte, schloss aber Cunego nach einer beherzten Attacke am Furkel-Pass auf. Und sie war stark besetzt, diese Gruppe – unter anderem mit Julio Perez Cuapio, Giuseppe di Grande und Rinaldo Nocentini. Nach dem Passo di Furcia waren aber noch reichlich flache Kilometer bis zum letzten Anstieg des Tages, dem Terento, zurückzulegen. War Cunegos Attacke ein Fehler? Nur gut drei Minuten betrug der Abstand zur Favoritengruppe.
Das zweitklassige Landbouwkredit-Team des Gesamtführenden Popovych war jedoch überfordert damit, die Ausreißer einzufangen. Und so saß Simoni in der Falle: Er konnte schlecht seine Helfer hinter Cunego herfahren lassen, und die anderen Mannschaften zeigten auch kein Interesse, für ihn oder eben Popovych die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Erst am letzten Berg ging Simoni in die Offensive, distanzierte immerhin Garzelli um 44 Sekunden und Popovych um 1:11 Minuten. Gontchar hingegen kam gemeinsam mit dem Titelverteidiger an, so dass er in der Gesamtwertung auf Rang zwei blieb, 1:14 Minuten hinter Cunego und 1:24 Minuten vor Simoni.
Die Revolte war also doch passiert, und das ausgerechnet an einem klassischen Simoni-Tag. Der Altmeister versuchte weiterhin, die Sache herunterzuspielen. Immerhin habe Saeco das Rosa Trikot, und außerdem würden noch schwere Etappen folgen. Doch auch auf dem 17. Teilstück mit Passo Mendola und der mittelschweren Bergankunft in Fondo Sarnonico änderte sich auf den ersten Positionen des Klassements nichts. Der Russe Pavel Tonkov gewann dort seine letzte Giro-Etappe.
Nun schielten alle auf den 18. Abschnitt über Passo Tonnale und Gavia mit Bergankunft in Bormio 2000. Simoni griff im Schlussanstieg an und brachte schnell einige Sekunden zwischen sich und die Konkurrenz. Cunego hielt dem Druck stand, hatte aber auch Glück, dass vor allem Dario Cioni das Tempo hoch hielt. Groß wurde die Lücke auch nicht, und kurz vorm Ziel waren alle Favoriten wieder beisammen – außer Garzelli, der an diesem Tag mehr als zwei Minuten und alle Restchancen auf den Giro-Sieg einbüßte. Nachdem Simoni gestellt worden war, griff Cunego sogar noch an, gewann die Etappe und holte fünf Sekunden auf Gontchar sowie neun auf Simoni heraus.
An diesem Tag brachen bei Simoni angesichts der Niederlage gegen seinen Teamkollegen, der den Spitznamen "der kleine Prinz“ verpasst bekam, die Dämme. Mit 3:07 Minuten Rückstand hatte er keine Chance mehr auf den Gesamtsieg, das war sonnenklar. Und auch Gontchar lag nun sogar um 1:36 Minuten vor ihm. Als "Hurensohn“ soll er Cunego beschimpft haben, wohl in Unkenntnis der Tatsache, dass der Mann in Rosa in der Verfolgergruppe keineswegs derjenige gewesen war, der das Tempo maßgeblich bestimmt hatte. Die Presse stürzte sich genüsslich auf diese Krise, es war eine Wachablösung wie aus dem Bilderbuch.
Jahre später beschwichtigte Simoni. Klar, er sei enttäuscht gewesen, aber mehr darüber, dass er den Giro nicht aus eigener Kraft hatte gewinnen können. Das Verhältnis zu Cunego sei nie auch nur ansatzweise so schlecht gewesen wie es in den Medien dargestellt wurde. Das würde zu dem stets grantelnden, aber dennoch großherzigen Italiener passen, der sich im Jahr 2007 noch einmal einem starken Newcomer im eigenen Team ausgesetzt sah: Riccardo Ricco. Einen Streit gab es zwischen diesen beiden nie.
Zurück zum Giro 2004: Die 19. Etappe führte über Mortirolo, Passo Bibione und hinauf nach Presolana. Zwischen Simoni und Cunego herrschte an diesem Tag zumindest Funkstille. Am Mortirolo setzten sich Simoni, Garzelli und Tadej Valjavec ab. In der Gruppe mit Cunego und Gontchar machten die Saeco-Fahrer das Tempo, das De Nardi-Team des Zeitfahrsiegers war zu schwach, um viel Hilfe anzubieten. Mehr als zwei Minuten brachte das Spitzentrio zwar nie zwischen sich und die Konkurrenten. Trotzdem würde Simoni so immerhin noch an Gontchar vorbeiziehen.
Im letzten Anstieg griff zunächst Cioni an. Ihm folgte Cunego, und auch Gontchar verteidigte sich zäh. Am Ende des Tages verbesserte sich Etappensieger Garzelli auf Gesamtrang sechs, Simoni blieb allerdings um winzige drei Sekunden hinter Gontchar, der das beste Giro-Ergebnis seiner Karriere einfuhr. Nach der Schlussetappe in Mailand standen "Gibo“ Simoni und Cunego dennoch einträchtig auf dem Siegerpodest. Der Vorjahressieger rang sich sogar ein Lächeln ab, das nicht einmal unaufrichtig wirkte.
Weder Simoni noch Cunego und auch nicht Garzelli gewannen jemals wieder den Giro. Cunego schaffte es sogar nie wieder auf ein Grand-Tour-Podium, während der ältere "Gibo“ noch einmal Zweiter und einmal Dritter der Italien-Rundfahrt werden sollte. Somit scheiterte Simoni auch an dem Versuch, den Giro dreimal zu gewinnen – das hat nach Bernard Hinault bis heute kein Rennfahrer geschafft. Viele Fachleute sehen es zwar so: Wäre Cunego im Jahr 2004 für ein anderes Team gefahren, hätte Simoni ihn besiegt. Aber ein berühmter deutscher Politiker sagte einmal: Hätte, hätte Fahrradkette.
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