Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Ganz groß in der zweiten Reihe

Von Guido Scholl

Foto zu dem Text "Ganz groß in der zweiten Reihe"
Julio Alberto Perez-Cuapio gewann 2002 die 13. Giro-Etappe | Foto: Cor Vos

27.05.2017  |  (rsn) - Die jüngere Geschichte des Giro d’Italia war eng verknüpft mit Namen wie Marco Pantani, Ivan Gotti, Gilberto Simoni, Jewgeni Berzin und Pavel Tonkov. Im elften und letzten Kapitel dieser Reihe soll allerdings, stellvertretend für die vielen Stars der zweiten Reihe, die Leistung eines Mannes gewürdigt werden, der zwar nie in die Nähe des Giro-Podiums gefahren ist, der aber mit seiner Fahrweise und seiner erfrischenden Art mehrere Italien-Rundfahrten wesentlich mitgeprägt hat: Julio Alberto Perez-Cuapio.

Der Mexikaner verehrte das Rennen geradezu, was sich an seinem Palmares ablesen lässt. In Europa fuhr er, vom Giro abgesehen, nur bei unmittelbaren Vorbereitungsrennen wie Settimana Lombarda und Trentino-Rundfahrt, die er 2003 respektive 2005 gewann, vorn mit. Nur ein einziges Mal bestritt Perez die Vuelta (2001), den Giro hingegen ließ er von 2000 bis 2008 kein einziges Mal aus.

Er gewann in dieser Zeit drei Bergetappen und einmal die Bergwertung, sein bestes Ergebnis im Gesamtklassement war Platz 19 im Jahr 2002. Klar: Nicht wenige Fahrer seiner Generation können Besseres vorweisen, aber dieser Perez Cuapio war einfach eine schillernde Figur. Und er war ständig im Getümmel zu finden, wenn sich Entscheidendes tat. Dabei fing alles reichlich unglücklich an für den Kletterer.

Im Jahr 2001 – seine Premiere im Jahr zuvor hatte er nach der 8. Etappe abbrechen müssen – nutzte Perez Cuapio gleich die ersten Meter des ersten langen Bergs zu einer Solo-Attacke. Am Montevergine, Ziel der 4. Etappe jenes Giro, fuhr der Panaria-Profi eine Lücke von 30 Sekunden heraus, doch die Favoritengruppe blieb an dem eher sanft ansteigenden Berg groß, so dass das Unterfangen des Mexikaners eher aussichtslos schien. Dennoch verteidigte Perez seinen Vorsprung zäh.

Dann riss ihm knapp fünf Kilometer vor dem Ziel die Kette. Er stand bedröppelt am Straßenrand, während das von Cantina Tollo angeführte Feld an ihm vorbeiflog. Drei Minuten nach Tagessieger Danilo di Luca erreichte Perez das Ziel. Am Tag darauf kam es knüppeldick: Der Mexikaner wurde durch einen Sturz auf eine Leitplanke geschleudert. Zwei Zähne gingen zu Bruch, der damals 23-Jährige blutete aus Mund und Nase. Aber er ließ sich weder den Mut noch die gute Laune nehmen – zumindest nicht dauerhaft.

Bereits während des 8. Teilstücks über mehrere Berge mit Ziel in Reggio Emilia gehörte Perez Cuapio wieder zur Fluchtgruppe des Tages. Am letzten Anstieg riss er aus und flog dem Ziel als Solist entgegen. Allerdings musste er noch 15 Kilometer bewältigen und hatte nur eine Minute Vorsprung. Zu allem Überfluss half in der ersten Verfolgergruppe sein Teamkollege Giuliano Figueras aus unerfindlichen Gründen bei der Nachführarbeit. So flog wenige Kilometer vor dem Ziel Pietro Caucchioli an dem Mexikaner vorbei, der immerhin diesmal nicht vom Feld geschluckt sondern als letzter der Ausreißergruppe Tagesneunter wurde. Also: Es ging bergauf.

Und wie: Während der 13. Etappe jenes Giro, die am Passo Pordoi enden sollte, gehörte Perez zu einer kleinen Spitzengruppe, die sich am Passo Fedaia bildete. Gilberto Simoni, Dario Frigo und Unai Osa waren ebenfalls dort. Abgeschüttelt hatten sie Abraham Olano, Stefano Garzelli und weitere Anwärter auf einen Spitzenplatz im Mailand. Simoni musste an diesem Tag Zeit auf Frigo herausholen, der als der bessere Zeitfahrer galt und mit einer Sekunde Vorsprung auf "Gibo“ die Gesamtwertung anführte.

Perez Cuapio griff am Schlussanstieg als Erster aus dieser Gruppe an und setzte sich ab – wohl in der Hoffnung, die Rivalität der Favoriten würde ihm in die Karten spielen. Doch Simoni und Osa schlossen zu ihm auf, wobei der Spanier das Tempo nicht lange halten konnte. Perez hingegen blieb an Simoni dran und bot ihm auch immer wieder seine Mitarbeit an. Noch kurz vor Schluss wollte der Mexikaner vorbeifahren und Tempo machen, doch Simoni bedeutete ihm mit beschwichtigender Geste, dass er das nicht tun müsse.

Damit machte der Italiener, der an diesem Tag den Grundstein für seinen ersten Giro-Sieg legte, deutlich, dass er seinem Begleiter den Etappensieg überlassen wollte. Befreit jubelnd rollte Perez kurz darauf über den Zielstrich. Offenbar hatte Simoni genauso Sympathien für diesen jungen Mann entwickelt wie ganz Radsport-Italien. Kein Wunder: Mit seinem breitem Lächeln und funkelnden Augen geriet der stets gut gelaunte Perez Cuapio zur Entdeckung dieses Giro und gleichsam zu einem kleinen Medienstar.

Unterhaltungswert hatten seine Auftritte allemal. So verriet er in einem der zahlreichen Interviews ganz offenherzig, dass er noch eine Freundin suche. Es soll sich daraufhin tatsächlich eine Romanze entwickelt haben, über deren Dauer aber nichts überliefert ist.

Dass der Lateinamerikaner nicht abergläubisch ist, bewies er im Jahr 2007, als der Giro wieder in Montevergine Halt machte: Perez griff mit viel Kraft an, jagte an einer Ausreißergruppe vorbei und fuhr dem Ziel mit 20 Sekunden Vorsprung entgegen. Eine Übersetzung von 53:19 soll er getreten haben. Die Kette hielt. Doch wie schon sechs Jahre zuvor war es die Mannschaft von Danilo di Luca, mittlerweile Liquigas, die ihn - an jenem Tag nur 800 Meter vor dem Ziel - einholte. Di Luca gewann abermals die Etappe.

Ins Bilderalbum des Giro trug sich Perez 2007 auch während der 15. Etappe ein, als er in einer Spitzengruppe mit Ivan Parra (Cofidis), Riccardo Ricco und Leonardo Piepoli (Saunier Duval) in Richtung Tre Cime di Lavaredo unterwegs war. Mitten im Anstieg tauchte "Teufel“ Didi Senft neben den Profis auf. Perez griff nach dessen Dreizack und tat so, als wolle er Piepoli in den Allerwertesten pieken. Als er danach mit breitem Grinsen neben Ricco fuhr und ein paar Anmerkungen zu seinem Späßchen loswerden wollte, verzog der Italiener keine Miene. Die Verbissenheit des mehrfachen Dopingsünders Ricco ist hinlänglich bekannt. Der gewann übrigens die Etappe, Perez wurde mit 32 Sekunden Rückstand Vierter.

Seinen besten Giro fuhr Perez Cuapio im Jahr 2002, als er zunächst die Bergankunft in San Giacomo vor Cadel Evans und Dario Frigo gewann. Dann riss er währen der 16. Etappe gemeinsam mit Pietro Caucchioli und weiteren Fahrern am Passo Fedaia aus. Es folgte der Passo Pordoi, den er ebenso als Erster überquerte wie den Passo di Campolongo, den letzten Anstieg dieser Königsetappe. Im Ziel hatte Perez noch eine Minute Vorsprung auf die Favoriten und die Bergwertung so gut wie sicher. An diesem Tag verlor Jens Heppner nach zehn Tagen bravurösen Kampfes das Rosa Trikot.

In den folgenden Jahren begab sich der sympathische Mexikaner noch mehrfach in Ausreißergruppen beim Giro, doch er brillierte nie mehr so wie in den Jahren 2001 und 2002. Vielfach sorgte er indes für die Musik, die den langen Etappen der großen Rundfahrten so gut tut. Seinen letzten Giro-Auftritt hatte Perez 2008, als im zu CSF Navigare umfirmierten Team andere leistungsmäßig an ihm vorbeigezogen waren. Doch Perez hängte sich dennoch voll rein und diente mehrfach als "Relais-Station“ für Vorstöße der Teamgefährten Emanuele Sella, Domenico Pozzovivo und Fortunato Baliani.

Etappensieger, Sturzopfer, Plaudertasche, Dauerausreißer, Pechvogel, Spaßmacher, Edel-Domestike – all diese Rollen hat Perez Cuapio in seinen neun Jahren bei der zweitwichtigsten Rundfahrt des UCI-Kalenders gespielt. Wahrlich keine schlechte Bilanz für den Mann, der in Tlaxcala de Xicoténcatl zu Welt gekommen war.

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