Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Die Stunde des Stellvertreters

Von Guido Scholl

Foto zu dem Text "Die Stunde des Stellvertreters"
Stefano Garzelli gewann den Giro d'Italia des Jahes 2000. | Foto: Cor Vos

25.05.2017  |  (rsn) - Die Ausgangslage vor dem Giro d’Italia 2000 war aus mehrerlei Gründen spannend. Die Italiener fieberten einerseits der Rückkehr des 1999 wegen zu hohen Hämatokritwerts ausgeschlossenen Marco Pantani entgegen, waren sich aber einig, dass "il pirata“ kaum um den Gesamtsieg würde kämpfen können. Umso mehr lag das Augenmerk auf seinem Stellvertreter als Kapitän des Mercatone Uno-Teams, Stefano Garzelli, der den Giro 1997 unter den ersten Zehn beendet und 1998 die Tour de Suisse gewonnen hatte.

Was würde Garzelli ausrichten können gegen Pavel Tonkov, der einen abermaligen Anlauf nehmen wollte, um seinen Gesamtsieg von 1996 zu wiederholen? Und gegen Francesco Casagrande, der in jenem Frühjahr den Flêche Wallone gewonnen hatte und als Ziel das Podium bei der Italien-Rundfahrt ausgegeben hatte? Dann war da noch die nachdrängende Nachwuchsgeneration an italienischen Klassementfahrern, allen voran der Zweite des Giro 1999, Paolo Savoldelli, und der Dritte des Vorjahres, Gilberto Simoni.

Und mit Titelverteidiger Ivan Gotti hatten zumindest die Fans von Pantani eine ganz spezielle Rechnung offen. Zwar konnte ihm niemand einen Vorwurf daraus machen, dass er den Giro 1999 am Tag nach "il piratas“ Rauswurf für sich entschied, trotzdem war er für viele im Pantani-Lager ein rotes Tuch.

Lange verlief der Giro 2000 unspektakulär. Christian Moreni und Axel Merckx gewann mittelschwere Bergetappen und Nachwuchshoffnung Danilo di Luca die kurze Bergankunft in Peschici. Das 9. Teilstück mit Ziel in Abetone führte die Fahrer in die Bergamasker Alpen, wo Casagrande den Vorhang für seine wohl größte Vorstellung auf dem Rad hob. Er landete einen Sieg, der durchaus der Grundstein für den Gesamtsieg hätte sein können.

Auf den ersten Kilometern des vorletzten Anstiegs, dem Passo di San Pellegrino, fiel Pantani mit der gesamten Mercatone-Armada (außer Garzelli) früh zurück. Gotti zupfte das Tempo daraufhin an, doch die Gruppe blieb noch recht groß. Casagrandes folgende Attacke war schon ernster zu nehmen, doch Gotti, Garzelli, Tonkov und Wladimir Belli blieben dran. Es bildete sich eine Favoritengruppe, in der Paolo Savoldelli, Jose Luis Rubiera und der noch in Rosa fahrende Moreni fehlten.

Casagrande wartete bis zum Steilstück kurz vor der Passhöhe, ehe er erneut antrat. Diesmal gingen nur noch Tonkov und di Luca mit. Doch auch sie mussten bald abreißen lassen, so dass Casagrande mit 15 Sekunden Vorsprung über die Bergwertung ging. In der Abfahrt baute er den weiter aus, erreichte den Schlussanstieg mit anderthalb Minuten Vorsprung.

Hinten war lange Zeit Andrea Noe als Tonkovs Schrittmacher um das Tempo bemüht, aber der Mann an der Spitze nahm dem Rest weitere Sekunden ab. Erst als die anderen Favoriten selbst an die Spitze gingen, holten sie Zeit zurück, doch Casagrande gewann mit 1:39 Minuten Vorsprung und führte in der Gesamtwertung nun mit 51 Sekunden vor di Luca sowie 1:39 Minuten vor Noe und Garzelli.

Nach dem Zeitfahren zwei Tage später war der Florentiner seinen Vorsprung wieder so gut wie los, denn er lieferte mit 3:32 Minuten Rückstand zu Tagessieger Victor Hugo Pena – der als erster Kolumbianer ein flaches Zeitfahren einer Grand Tour gewann – die schwächste Leistung aller Top-Leute ab. Belli lag nur noch um vier Sekunden hinter ihm, Tonkov um sieben, di Luca um zehn und Garzelli um 22. Ein reichlich dünnes Polster, zumal die Organisatoren den Rennfahrern in der zweiten Giro-Hälfte so ziemlich alles in den Weg warfen, was die Landschaft hergab. Lediglich Gotti hatte kaum profitieren können und wies noch immer 1:19 Minuten Rückstand auf.

Während der 13. Etappe über drei schwere Dolomiten-Pässe mit Ziel in Selva Gardena wollte Casagrande die Verhältnisse wieder zurechtrücken und ließ Roberto Conti, seinen stärksten Helfer bei Vini Caldirola, am Passo Fedaia das Tempo anziehen. Dann griff der Mann in Rosa selbst an, und nur Gotti und Garzelli konnten mitgehen. Oben an der Marmolada hatte das Trio, in dem Casagrande allein das Tempo gemacht hatte, 21 Sekunden Vorsprung auf Dario Frigo und etwas mehr als eine halbe Minute auf die Gruppe Tonkov. Allen war klar: Casagrande war am Berg der Stärkste.

Doch an diesem Tag machten sie im Casagrande-Lager taktisch so ziemlich alles verkehrt – anstatt den Alpe d’Huez-Sieger von 1994, Conti, am Fedaia ein konstant hohes Tempo anschlagen zu lassen, verschlissen sie zuerst ihn und dann Casagrande selbst. Denn als in der Abfahrt alles wieder zusammen lief, war der Gesamtführende im letzten Anstieg, dem Passo di Sella, isoliert. Attacke auf Attacke musste er parieren, am Ende stahlen sich Simoni und Rubiera davon, der Spanier gewann die Etappe. Zwar sah es auf dem Papier zunächst nach einem guten Tag für Casagrande aus, weil er doch noch Zeit gut gemacht hatte auf die meisten seiner Rivalen und immerhin 18 Sekunden Vorsprung auf Rang zwei hatte. Dort lag nun Garzelli, der Casagrande im Zielspurt vier Sekunden Bonifikation abgeluchst hatte.

Am nächsten Tag bot sich dem Mann in Rosa die große Chance, die Sache zu regeln. Im Anstieg zum Gavia, der letzten schweren Prüfung der 14. Etappe, offenbarte Garzelli Schwächen. Simoni attackierte als Erster, und mit ganz dicker Mühle schloss Casagrande mit Hernan Buenahora zu ihm auf. Erst später kamen auch Gotti und Belli hinzu. Diesmal versäumte es Casagrande, mit seinen Begleitern eine Allianz zu schmieden. Im Anstieg ließ er Simoni die meiste Zeit führen, nachdem Gavia lastete der Druck wieder auf seinen Schultern. Garzelli hatte an der Passhöhe 35 Sekunden Vorsprung – im Ziel waren es nur noch elf. Immerhin: Dank Zeitgutschrift enteilte der Florentiner seinem schärfsten Widersacher auf 33 Sekunden. Tagessieger Simoni lag 57 Sekunden zurück.

Die 18. Etappe mit Bergankunft in Pratonevoso bot eine weitere Gelegenheit für Casagrande, sich vor dem Bergzeitfahren in Sestriere mehr Luft zu verschaffen. Aber im Finale wirkte der Mann in Rosa nicht mehr so stark wie noch in der zweiten Giro-Woche. Garzelli gewann die Etappe im Sprint einer kleinen Gruppe, in der Casagrande Dritter wurde. Wegen der Zeitgutschrift rückte der Mercatone-Uno-Mann auf 25 Sekunden heran, Simoni, der Zweiter geworden war, auf 53 Sekunden.

Auch während der 19. Etappe über Colle d’Agnello und Col d’Izoard gelang es keinem der Topfahrer, Zeit zu gewinnen. Garzelli hatte am letzten Berg Pantani an seiner Seite, der vor dem Giro angekündigt hatte, Zünglein an der Waage sein zu wollen. Der "Pirat“ neutralisierte Simonis Angriffe und probierte es auch selbst einmal. Weil Simoni hinter Paolo Lanchfranchi und Pantani Tagesdritter wurde, reduzierte er seinen Rückstand zu Casagrande auf 49 Sekunden. Garzelli ging mit 25 Sekunden Abstand in das 32 Kilometer lange Bergzeitfahren am nächsten Tag.

In Sestriere schlug dann die Stunde des Stefano Garzelli. Schon bei der ersten Zwischenzeit hatte Casagrande sein Polster aufgebraucht. Im Ziel wies er 3:09 Rückstand auf Tagessieger Jan Hruska auf. Garzelli war fast zwei Minuten schneller gewesen, und selbst Simoni blieb in der Endabrechnung nur um sechs Sekunden hinter Casagrande. Mercatone Uno hatte den Giro gewonnen – Dank der Konstanz von Pantanis Stellvertreter.

Und plötzlich fiel den Beobachtern auch auf, dass Casagrande zunächst wohl am Berg dominiert hatte. Mehr als ein paar Sekunden Vorsprung waren in den Anstiegen aber nie herausgesprungen – den Großteil seines Polsters in Abetone hatte der Florentiner in der Abfahrt gewonnen. Den Giro verlor er allerdings nicht in Sestriere sondern in den Dolomiten.

Zwei Jahre später sollte Casagrande noch einmal gegen Ende des Giro vor allen anderen Favoriten liegen und alle Chancen haben, den Gesamtsieg einzufahren. Doch wegen eines Schubsers gegen Freddy Garcia wurde er aus dem Rennen ausgeschlossen. Mit den Worten "Sie haben meine Karriere zerstört“ wandte sich der Florentiner ab - das hatte er aber ganz allein hinbekommen.

 

Mehr Informationen zu diesem Thema

27.05.2017Ganz groß in der zweiten Reihe

(rsn) - Die jüngere Geschichte des Giro d’Italia war eng verknüpft mit Namen wie Marco Pantani, Ivan Gotti, Gilberto Simoni, Jewgeni Berzin und Pavel Tonkov. Im elften und letzten Kapitel dieser R

26.05.2017Die Revolte des kleinen Prinzen

(rsn) - Bei der Italien-Rundfahrt 2004 erwartete das Publikum den erneuten Zweikampf zwischen Gilberto Simoni und Stefano Garzelli, die sich bereits im Jahr zuvor duelliert hatten. Simoni hatte deutli

22.05.2017Gottis großes Ding

(rsn) - Vor dem Giro d´Italia 1997 war kein glasklarer Favorit auszumachen – hinter jedem der Anwärter auf den Gesamtsieg stand ein kleineres oder größeres Fragezeichen. Das kleinste war sicherl

19.05.2017Die zehn rosaroten Tage von "Opa“ Heppner

(rsn) - Einen wechselhafteren Giro als jenen des Jahres 2002 hat es wohl nie vorher und auch nie mehr danach gegeben. Ein Favorit nach dem anderen wurde entweder aus dem Rennen genommen, brach in den

18.05.2017Showdown am Berg der Champions

(rsn) - Vor dem Giro d’Italia 1998 waren die Favoriten auf den Gesamtsieg schnell ausgemacht: Die Gewinner der beiden Vorjahre, Ivan Gotti und Pavel Tonkov, der Gewinner der Spanien-Rundfahrt 1996 u

15.05.2017Ullrichs ungewollte Abschieds-Gala

(rsn) - Im Jahr 2006 bestritt Jan Ullrich seinen zweiten und letzten Giro d’Italia. Es sollte sein vorletztes Profirennen überhaupt sein. Und er verabschiedete sich mit einem sensationellen Sieg vo

08.05.2017Ein Taktik-Fuchs und zwei Streithähne

(rsn) Die 1995er-Auflage des Giro d´Italia erlebte den ganz großen Auftritt des Schweizers Tony Rominger, war aber ebenso geprägt vom Streit der Gewiss-Kapitäne Jewgeni Berzin und Piotr Ugrumov.

07.05.2017Als den Panta-Tifosi das Herz brach

(rsn) - Der Giro d´Italia 1999 sollte zur großen Show des Marco Pantani werden. Doch anstelle einer Gala entwickelte sich das Rennen zum Drama, das im Rückblick die Tragödie einleitete, in deren V

05.05.2017Mortirolo 1994 - die Geburtsstunde des Piraten

(rsn) - Der Giro d’Italia 1994 markierte einen Wendepunkt für die Tifosi. Mit Marco Pantani ging ein Stern am Radsporthimmel auf, der die der übrigen Idole der italienischen Fans – allen voran C

04.05.2017Schnee am Gavia - der Tag, an dem die großen Männer weinten

(rsn) - Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro dâ

Weitere Radsportnachrichten

23.11.2024Track Champions League: Format, Kalender, Punktesystem

(rsn) – Nach Olympia in Paris im Sommer und den Weltmeisterschaften im Oktober im dänischen Ballerup endet das internationale Bahnjahr an den kommenden drei Wochenenden mit der Track Champions Leag

23.11.2024Scott David: Trotz Traumwerten keine WorldTour

(rsn) – “Mein Ziel ist ein WorldTour- oder ProTeam-Vertrag. Ich habe mir ein Limit von zwei Jahren gesetzt, so lange möchte ich es auf Kontinental-Niveau versuchen“, hatte Scott David im letzte

23.11.2024Mit einer starken Saison zum neuen Zweijahresvertrag

(rsn) – Tobias Bayer (Alpecin – Deceuninck) absolvierte eine eher unauffällige Saison, was aber auch daran lag, dass der Österreicher oft als Helfer im Einsatz oder in frühen Fluchtgruppen zu f

23.11.2024Wafler: Rückkehr nach Paris weckt Olympia-Erinnerungen

(rsn) - Tim Wafler hat es erstmals in das illustre Feld der Ausdauerfahrer der UCI Track Champions League geschafft. Der Österreicher startet am Samstagabend im Velodrome National in Saint-Quentin-en

23.11.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

22.11.2024Top-Favoritin? Archibald nach schwerem Jahr eine “7 von 10“

(rsn) – Katie Archibald ist die Königin der Track Champions League. 2021 und 2023 gewann sie jeweils souverän den Titel in der Endurance League und auch 2022 wäre das wohl gelungen, wenn sie dama

22.11.2024Spiegel will “versuchen, ´die Großen´ etwas zu ärgern“

(rsn) – Luca Spiegel wird am Samstag sein Debüt in der Track Champions League geben. Der 20-jährige U23-Europameister im Sprint will auf der Bahn, auf der er im Sommer zu den jüngsten Olympia-Sta

22.11.2024Olympia-Reservistin Pröpster: Gelingt bei TCL der nächste Schritt?

(rsn) – Mit drei Rennsiegen, dem zwischenzeitlichen Tragen des Führungstrikots und schließlich Gesamtrang zwei in der Sprint League hat Alessa-Catriona Pröpster bei der Track Champions League 202

22.11.2024Eschborn-Frankfurt-Sieger van Gils: “Ich würde lieber gehen“

(rsn) – Maxim van Gils (Lotto - Dstny) scheint entschlossen, sein Team trotz eines noch bis Ende 2026 gültigen Vertrags so schnell wie möglich verlassen zu wollen. Wie er im Gespräch mit mehreren

22.11.2024Gall: Tour of the Alps “absoluter Fokus“ der ersten Saisonhälfte

(rsn) – Felix Gall bestritt 2022 seine bisher letzte Tour of the Alps. In seinem damals ersten Jahr im Trikot von Decathlon – AG2R La Mondiale beendete der Österreicher nach vier Top-Ten-Etappenp

22.11.2024Tour of the Alps auch 2025 ein Kletterfestival mit kurzen Wegen

(rsn) - Fünf Etappen, 739 Kilometer und 14.700 Höhenmeter: Das sind die Eckdaten der Tour of the Alps 2025. Die 48. Ausgabe des grenzüberschreitenden Etappenrennens findet vom 21. bis 25. April 202

22.11.2024Tour Colombia wegen finanzieller Probleme erneut in Gefahr

(rsn) – Nachdem sie bereits in den Jahren 2022 und 2023 aufgrund von finanziellen Problemen ausgefallen war, scheint die Tour Colombia (2.1) erneut zu wackeln. Wie die Zeitung El Tiempo berichtete,

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine