Wagners Tour-Tagebuch

"Hey Dylan, wir bremsen hier aber nicht!“

Von Robert Wagner und Sebastian Paddags

Foto zu dem Text "
Robert Wagner (LottoNL-Jumbo) im Ziel der Tour de France - eben hat sein Teamkollege Dylan Groenewegen die letzte Etappe gewonnen. | Foto: Cor Vos

25.07.2017  |  (rsn) - Da war er also gekommen - der letzte Tag der Tour de France 2017.

Schon irgendwie irre und sehr verrückt, wie schnell diese drei Wochen jetzt vergangen sind. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, dass wir in Düsseldorf in dieser unglaublichen Kulisse unterwegs waren und dass ich mit Paddi die ersten kurzen Videos aufgenommen habe. Da haben wir noch überlegt, wie wir den Blog überhaupt nach Düsseldorf weitermachen können und ob wir das hinbekommen, jeden Abend zu telefonieren… Und was nun aber alles passiert ist und was wir schon wieder alles erlebt haben…das würde einem doch eigentlich auch kein Mensch glauben und man selbst würde wahrscheinlich die Hälfte schon nach drei Wochen wieder vergessen. Zum Glück aber haben wir ja alles aufgeschrieben!

Nun aber zum Sonntag: Der Tag begann für uns genau so, wie die letzten drei Wochen vergangen sind - nämlich im Fluge. Schön eine Stunde in den Flieger und ganz unkompliziert von Südfrankreich nach Paris jetten…alles wunderbar organisiert von der A.S.O. (der Tour-Organisation) und somit erst mal recht entspannend.

Einzig, dass wir dabei von 30 Grad in Marseille auf 19 Grad in Paris "down-graden“ mussten, fand ich nicht so toll. Und die weiteren Wetterprognosen sahen leider auch nicht so vielversprechend aus. Nässe in Verbindung mit dem bereits beschriebenen Acker auf der Zielrunde - also keine all zu gute Aussicht für den Renntag. In Paris gelandet, wurden wir erst mal von Bussen der Organisation zu unseren Teambussen gefahren, die über Nacht schon den Weg von Marseille vorausgefahren waren.

Dort angekommen, hatten wir dann aber noch immer richtig viel Zeit und konnten so direkt noch mal ganz gepflegt 2,5 Stunden im Bus "abkeimen“. Ihr werdet es ahnen - in der Wagnerrechten liegend gammelte ich dem Start entgegen und mit zunehmender Abmattung wurden wir aber leider auch alle immer müder. Normalerweise hatten wir ja immer gegen Mittag Start und waren dann am frühen Abend fertig. Heute jedoch musste der Körper sich umstellen und dieses Gefühl von "Boah, jetzt Radrennen? Nö!“ musste man irgendwie loswerden.

Irgendwann fand dann zum Glück unser alltägliches Meeting statt und ich glaube, da kam die Wende. Unsere Stimmung wurde minütlich besser und während der Besprechung fand Paul Martens im rechten Moment die passenden Worte, so dass wir anschließend alle richtig heiß waren und förmlich auf diesen letzten Sprint brannten. Das war schon ein geiles Feeling in unserer Gruppe und obwohl wir nur noch zu fünft waren anstatt zu neunt, war jede Menge Optimismus zu spüren.

Der Weg nach Paris war dann erst mal wieder sehr entspannt, so wie man das kennt und alle machten ihre Faxen. Fotos hier, Anstoßen da… Diese Bilder sind natürlich immer wieder ein Highlight. Das Wetter war zum Glück stabil und so rollten wir alle ein letzte Mal dahin.

Ich persönlich nutzte die Chance und quatschte noch mal mit vielen der deutschen Rennfahrern, die auch alle sichtlich locker drauf waren und ließ so die letzten Wochen etwas Revue passieren. Unter anderem führte mich mein Weg auch zu Nils Politt und ich staunte nicht schlecht. Der Knabe hatte sich heute so richtig eingedieselt und ich konnte das schon von Weitem riechen. Auf die Frage hin, ob er wegen des Finales so aufgeregt sei, sagte er, dass doch jetzt, wo unser Titi Voeckler ja aufhöre, irgendwer dessen Job übernehmen müsse.

Und er wäre dafür nun quasi der Ersatzmann und hätte sich eigens zu diesem Anlass auch den Duft seines Sportlichen Leiters (ich habe leider vergessen, was es genau war) geben lassen. Grundlegend fand ich dieses Engagement von Nils natürlich großartig, kam aber auch nicht umhin, ihn im gleichen Atemzug darauf aufmerksam zu machen, dass auch Burgi (Marcus Burkhardt) schon immer nicht mit der adäquaten Einsprühung geizte. Die beiden können sich also die Nachfolge von Titi noch streitig machen… Wobei mir dann später noch einfiel, dass Nils eigentlich im direkten Vergleich noch einen entscheidenden Vorteil hat: Er streckt in verschiedenen Rennsituationen immer mal seine Zunge sehr ulkig raus und steht den Gesichts-Eskapaden von Titi somit eigentlich in kaum etwas nach.

Irgendwann kamen wir dann aber auf den Rundkurs und ab da war ich wirklich die letzten 48 Kilometer nur noch wie im Tunnel - und das alles sogar mit Gänsehaut. Da wir keine Gruppen entwischen lassen wollten, hatten wir heute unseren Primož mit eingeteilt, an der Spitze des Feldes für Tempo zu sorgen und das war auch gut so, da sich gleich mal neun Mann, unter anderem mit dem duftenden Nils und Burgi, absetzten. Die Spiele waren also wieder eröffnet und Vollgas war angesagt. Dass wir an diesem Sonntag dann auch die schnellsten letzten fünf Runden aller Zeiten fahren würden, war da noch nicht abzusehen!

Paul, Tom (Leezer) und ich blieben bei Dylan und versuchten, ihn ein letztes Mal so gut es ging zu unterstützen und aus dem Wind zu nehmen. "Erfreulicherweise“ begann es dann auch knapp zwei Runden vor Schluss zu nieseln und man merkte richtig, wie alle vorsichtiger wurden. Teilweise fuhren wir wie auf Eis und man spürte so richtig die allgemeine Anspannung. Bei uns dagegen war anscheinend der perfekte Reifendruck aufgelegt und auch der Reifen selbst machte einen Wahnsinnsjob. Wir hatten also gutes Vertrauen in unsere Bodenhaftung und ich rief irgendwann mal zu Dylan: "Hey Dylan, wir bremsen hier aber nicht!“. Ich hörte nur von hinten ein "NÖ“ und war zufrieden. Das ließ die Motivation und das Selbstvertrauen noch mal steigen.

Im Übrigen waren wir natürlich heute auch alle sehr angespannt und entsprechend porös, so dass auch bei Kleinigkeiten, die schief liefen, der Umgangston schon mal etwas rabiater wurde. Aber das ist ganz normal und du fährst da kurz mal aus der Trikotage und dann ist auch wieder gut.

Paul hatte leider bei ungefähr elf Kilometern vor dem Ziel noch ein technisches Problem und so ging ich mit Tom und Dylan zu dritt ins große Finale. Tom blieb bis ungefähr 1,5 Kilometer vor dem Ziel an unserer Seite und lieferte uns perfekt positioniert vorne ab. Dann kam Katusha und ich war mit Dylan am Hinterrad noch immer ganz vorne mit dabei. Bei ungefähr 550 Metern bin ich dann ausgeschert und war mir zu dem Zeitpunkt aber noch nicht ganz sicher, ob Dylan nicht vielleicht sogar schon zu weit vorne lag, da es ja noch ein gutes Stück war.

Die Frage nach dem zu früh oder zu spät hat Dylan dann aber definitiv auf seine ganz eigene Art beantwortet und ich muss hier noch mal anfügen, dass der Sprint bei Gegenwind und ansteigender Zielgerade über gute 300 Meter eigentlich unmöglich so fahrbar ist. Eigentlich - denn wie wir sehen konnten, hat er das Ding einfach eiskalt durchgezogen damit allen gezeigt, was er wirklich kann.

Ich selbst habe nach meinem Ausklinken nur noch in den Funk gebrüllt und habe dann den Sprint auf einer der großen Leinwände sehen können. Da haben sie das allerdings von vorne gezeigt und   es sah fast so aus, als wär er noch überholt worden. Als dann endlich aber die Aufnahme von der Seite kam, waren alle Zweifel beseitigt. Von diesem Moment an waren es nur noch Emotionen, die aus mir herausbrachen - das pure Glück.

Die Freude war unbeschreiblich groß und ich erlebte das alles fast wieder wie in einem Tunnel! Von überall kamen Glückwünsche und Umarmungen und ich traf endlich auch meine Freundin sowie einige Freunde und Familienangehörige mitten in diesem Getümmel. Irgendwer drückte mir auch immer mal wieder ein Glas mit Champagner oder Sekt in die Hand und ich merkte erst einige Zeit später, dass der Alkohol auf nüchternen Magen mir schon ordentlich einen verpasst hatte. Aber scheißegal - Paris ist nur einmal im Jahr - und erst recht mit Etappensieg!

Nach also wirklich sehr langer Zeit inmitten der feiernden Menge landete ich irgendwann endlich im Bus und konnte duschen gehen… Als ich dann irgendwann wieder aus dem Bus heraus kam, musste ich erst mal richtig lachen. Um uns herum wurde schon fast wieder abgebaut und alles ebbte so langsam ab - aber ein einziger Fahrer war noch immer in voller Rennbekleidung unterwegs und schien sich von jedem Fan einzeln und persönlich verabschieden zu wollen.

Ich glaube, er ist die komplette Champs-Élysées noch einmal alleine hoch und runter gefahren, damit er auch wirklich niemanden verpasst: Es war unser Freund Taylor Phinney. So geil, wie der Typ redet - nämlich wie in "slow motion“ - genau dazu passte diese Aktion. Ich könnte jetzt noch darüber lachen!

Für uns ging es dann mit Autos zur Niederländischen Botschaft, wo uns alle ein toller Empfang mit anschließender Party, super leckerem Essen und vielen Drinks erwartete. Die Familien und einige Freunde waren natürlich mit dabei und so war der Abend wirklich großartig. Der Botschafter selbst ist auch ein sehr lockerer Typ und ich glaube, für den war unser "Besuch“ auch eine willkommene Abwechslung in seinem sonst weniger sportlichen Diplomaten-Dasein.

Im letzten Jahr waren wir da übrigens auch schon, aber diesmal hatten wir doch einigen Grund mehr zur Freude und zum Feiern. Trotz vieler Ups und Downs bei dieser Tour können wir wirklich ein tolles Resümee ziehen und mehr als zufrieden sein. Grade mit den vielen Verletzungen und Aufgaben unserer Teamkollegen hatten wir es nicht leicht und wenn man überlegt, wie groß noch die Enttäuschung am Vortag nach dem Defekt im Zeitfahren von Primož war, dann sieht man, was für ein gewaltiges Wellenbad der Gefühle man hier erleben kann. Heute waren wir wieder ganz oben!

Tja, und wenn man sich überlegt, dass einige Teams sogar komplett "leer“ ausgegangen sind, dann können wir uns erst recht freuen. Ich persönlich bin super happy und es ging für mich ein Traum in Erfüllung: Wir haben eine Sprintetappe mit Dylan gewonnen und dann noch die in Paris. Wahnsinn! Dylan hat übrigens vor dem Rennen gesagt, dass ihm das zwar klar sei, dass Paris so besonders ist, aber dass er sich da ja nun auch nicht aussuchen kann. "Robbie McEwen hat schließlich  seinerzeit auch seine allererste Touretappe in Paris gewonnen!“

Und wenn Ihr mich fragt, war das auch nicht die letzte Etappe, die Dylan gewonnen haben wird - immerhin ist er grade mal 24 Jahre alt.

Chris Froome hat mit Kneesi an der Seite nun auch seinen vierten Titel eingetütet und die Franzosen können mit Platz drei durch Romain Bardet sicherlich auch gut leben - wenn es auch denkbar knapp war. Ich glaube übrigens, die A.S.O. hätte bei einsetzendem "richtigen“ Regen sofort die Zeit eingefroren und diese bei der ersten Zieldurchfahrt gestoppt. Aber soweit kam es ja zum Glück nicht.

Nach der schönen Feierei, auf der sich aber alle gut benommen hatten, mit einigen leckeren Drinks und ganz viel ungesundem Nachtisch war ich dann ungefähr um 3 Uhr im Bett und wurde aber gegen 5 Uhr schon wieder wach, weil ich tatsächlich wahnsinnigen Hunger hatte. Glücklicherweise hatte meine Freundin mir eine schöne Schokolade mitgebracht und ich war somit gerettet. Nicht auszudenken, die Schoki wäre nicht da gewesen!

Am Montag ging es dann zurück für mich nach Hause und auch hier holte mich die Vergangenheit noch einmal ein. Meinen Wohnort Kelmis haben wir während der 2. Etappe nach Lüttich mit der Tour durchquert und überall war noch der Schmuck an der Straße zu sehen und ich hatte direkt wieder die Bilder der Menschenmengen vor Augen, großartig! Als ich dann vorhin nach Hause kam, erlebte ich gleich noch mal eine Überraschung, denn an meiner Wohnungstür hing ein großes Plakat "Willkommen zuhause Wagi!“, worüber ich mich wirklich sehr freute. Einen schöneren Empfang kann man sich ja kaum wünschen.

Mit dieser Ankunft ist meine Tour de France nun endgültig abgeschlossen und ich freue mich über etwas Ruhe. Am Mittwoch werde ich in Neuss am Start stehen, am Freitag in Krefeld und am Samstag bin ich dann gemeinsam mit Paddi in meiner alten Heimat Gera. Wenn alles klappt, gibts da dann auch noch mal ein kleines Special "vom Dicken und vom Belgier“!

Tja, nach diesen aufregenden Wochen geht unser Tour-Tagebuch nun also zu Ende und wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal in aller Form bei Euch bedanken. Mit so vielen aufmunternden Nachrichten und Lob hätten wir wirklich niemals gerechnet. Es erfüllt uns mit Stolz, dass ihr beim Lesen unserer Zeilen jeden Tag wieder lachen konntet und dass Ihr auf diese Weise einen Einblick ins Peloton erhalten konntet, den es sonst vielleicht nicht gibt.

Bleibt dem Radsport treu und sagt uns ruhig mal hallo, wenn ihr uns irgendwo seht.

Euer Wagi & Paddi aka Robert Wagner & Sebastian Paddags

PS: Schaut übrigens mal auf die Seite von Michael Gogl - der Junge hat sich letztlich sogar mit einer Fraktur am Sitzbein bis nach Paris gekämpft und das verdient einen Extraapplaus!

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