Sunweb peilt 2. Giro-Sieg der Teamgeschichte an

Keldermans Achterbahnkarriere strebt ihrem späten Zenit zu

Von Tom Mustroph

Foto zu dem Text "Keldermans Achterbahnkarriere strebt ihrem späten Zenit zu"
Wilco Kelderman (Sunweb) liegt auf Kurs Giro-Sieg. | Foto: Cor Vos

19.10.2020  |  (rsn) - Das Bild war deutlich: Sechs Weißhemden spannten sich am Fuße des Aufstiegs nach Piancavallo vor das Feld. Team Sunweb machte Druck. Wie groß der Druck war, mochte man daran erkennen, wie lang gezogen das Feld war. "Fila indiana" - Indianerreihe nennt das der mit Spaghetti-Western sozialisierte einheimische Radsport-Tifoso. Sunweb machte das, was jahrelang die Spezialität von Team Sky / Ineos war, und worin in den letzten zwei Saisons Team Jumbo - Visma die Lehrmeister übertraf. Ineos hat keinen Leader mehr beim 103. Giro d‘Italia, Jumbo - Visma ist wegen Corona ganz aus dem Rennen, nun springt Sunweb in die Rolle des Dominanzteams.

Es hat auch den Kapitän, für den sich der ganze Aufwand lohnt. Wilco Kelderman präsentierte sich bisher als der solideste der Klassementkandidaten. Im Zeitfahren ließ der 29-jährige Niederländer nur Joao Almeida (Deceuninck - Quick-Step) und den längst ausgeschiedenen Geraint Thomas (Ineos Grenadiers) an sich vorbei. Wenn die Berge länger wurden, holte er jedes Mal Zeit auf die Konkurrenten heraus. Im Alleingang ein paar Sekunden am Ätna und in Roccaraso. 35 Sekunden (auf Almeida) und mehr als anderthalb Minuten (auf Vincenzo Nibali) waren es dank der Kollektivanstrengung in Piancavallo.

Kelderman ist endlich da, wo man ihn bereits nach seinem siebten Platz beim Giro 2014 längst erwartet hatte. Mittendrin im Kampf um Rundfahrtsiege. "Für mich ist er ganz klar Kandidat Nummer 1 für Giro-Sieg in Mailand", sagte selbstbewusst Jai Hindley zu Radsport-News. Der Australier war der letzte Kessel der Berglokomotive, die Kelderman nach Piancavallo hochgezogen hatte. "Für mich war es ganz einfach. Ich musste einfach nur meinen Jungs folgen", scherzte der Gesamtzweite im Ziel.

Kelderman nun Favorit Nummer 1 auf den Giro-Sieg

Die Übernahme des Rosa Trikots klappte zwar nicht. Aber Kelderman ist endlich auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn angelangt und t auch für Beobachter, die nicht zum Rennstall Sunweb gehören, Favorit Nummer 1 auf das Maglia Rosa in Mailand.

Damit strebt eine Achterbahnkarriere ihrem späten Zenit zu. Vor sechs Jahren, bei seinem damaligen Giro-Coup, fuhr er noch bei Belkin, dem Nachfolger von Rabobank - und Vorgänger von Jumbo - Visma. Damals traute man ihm im Lande der Deiche und Tulpen bereits Großes zu. Mehr zu als dem braven Steven Kruijswijk, mehr auch als dem fragilen Robert Gesink. Und Tom Dumoulin galt damals eher als ein begnadeter Zeitfahrer, bei dem man mal ausprobieren wollte, wie gut er so über die Berge kommt.

Einige Stürze bremsten Kelderman dann aber aus. Er wechselte zu Team Sunweb, um die dortigen Klassement-Ambitionen zu unterstützen, ganz gegen die Jugendregel bei diesem Rennstall übrigens, der lieber die Talente selbst entwickelt. Kelderman mochte zum Wechsel auch die Beobachtung aus nächster Nähe der immensen Fortschritte eines gewissen slowenischen Radsportumsteigers motiviert haben.

Auch bei Sunweb lange Zeit vom Pech verfolgt

Bei Sunweb verfolgte ihn aber weiter das Pech. 2017 war er als wichtigster Helfer für Tom Dumoulin beim Giro gebucht. Dort kollidierte er aber mit einem Motorrad und brach sich den Finger. Sein Crash nahm zugleich Geraint Thomas und Adam Yates aus dem Rennen. Kelderman wurde im Herbst immerhin noch Vierter bei der Vuelta. Danach aber neue Stürze, neue Brüche, neuerliche Rückschläge.

"2018 und 2019 waren zwei schwierige Jahre für mich. Ich konnte mich nicht richtig vorbereiten. Erst in diesem Jahr konnte ich ohne Probleme trainieren. Und die Resultate sieht man ja", sagte Kelderman zu radsport-news.com. Man sieht sie, gewiss. Entgegen kommt ihm auch, dass sich Thomas, sein Mit-Sturzopfer beim 2017er Giro, in diesem Jahr ohne sein Zutun aus dem Rennen verabschiedete. Und auch der andere Yates-Zwilling ist weg, wegen einer Corona-Infektion.

Mit Simon Yates fehlt ein explosiver und angriffslustiger Fahrer, der Kelderman das Leben schwer gemacht hätte. Und Thomas wäre im Zeitfahren mindestens ebenbürtig gewesen. Kelderman hat es nun ausschließlich mit Konkurrenten zu tun, die bestenfalls auf seinem Niveau fahren, eher noch eine halbe Etage tiefer. Die letzte Variable in der komplexen Rechenaufgabe Radsport strebt ebenfalls der Lösung zu. Almeida zeigte in Piancavallo erste Schwächen. Kelderman selbst muss sich jetzt nur von schlecht geparkten Polizeimotorrädern fernhalten. Und sollte Tao Geoghegan Hart, der neue Gesamtvierte von Ineos, Lust auf Attacken verspüren, kann er den Job gelassen vom Teamkollegen Hindley, ein Platz vor dem Briten im Klassement, erledigen lassen. Stand jetzt kann Sunweb den Giro nur noch verlieren.

Und das nächste Team von Kelderman handelt sich ein Luxusproblem ein. Der Rundfahrer wechselt zum Saisonende zu Bora - hansgrohe. Kommt der Niederländer als Giro-Sieger, wird er sich kaum mit einer Helferrolle für Emanuel Buchmann zufrieden geben. "Ach, das ist dann nicht mein Problem, darum müssen sich andere kümmern. Ich gebe jetzt 100 Prozent Aufmerksamkeit den Jungs, die ich jetzt am Start habe", meinte Jens Zemke von Bora - hansgrohe zu radsport-news.com.

Für Sunweb hingegen wäre es erneut ein bittersüßer Sieg. Auch der erste Girosieger des Rennstalls, Tom Dumoulin, wechselte recht schnell den Arbeitgeber.

Mehr Informationen zu diesem Thema

04.01.2021Die Highlights des Giro d´Italia 2020

(rsn) - Der Giro d’Italia 2020 stand ganz im Zeichen der Youngster: Tao Geoghegan Hart (Ineos) sicherte sich den Gesamtsieg vor Jai Hindley (Sunweb), der Portugiese Joao Almeida (Deceuninck - Quick-

02.01.2021Spekenbrink verteidigt Giro-Taktik mit Kelderman und Hindley

(rsn) - Im Oktober 2020 musste Sunweb beim Giro d’Italia eine Entscheidung treffen, vor der sich jede Teamleitung fürchtet: Als der nominelle Kapitän Wilco Kelderman auf der 16. Etappe am berücht

18.12.2020Kelderman: “Bei Bora – hansgrohe spüre ich Vertrauen“

(rsn) - Wilco Kelderman (Sunweb) hat eine bewegte Saison hinter sich. Der Niederländer stand kurz vor dem Gesamtsieg beim Giro d’ Italia, ehe er am vorletzten Tag in Sestriere das Rosa Trikot an se

26.11.2020Sagan würde gerne zum Giro zurückkehren

(rsn) - Nach seinem erfolgreichen Giro-Debüt, bei dem er einen Etappensieg feiern und vier weiteren zweiten Plätzen würde Peter Sagan (Bora - hansgrohe) im kommenden Jahr gerne zur Italien-Rundfahr

30.10.2020Sagan: “Ich bin immer noch da und definitiv noch nicht fertig“

(rsn) - Peter Sagan (Bora - hansgrohe) hat an seinen 64 Renntagen dieser Saison nur einmal als Erster die Ziellinie überquert. Den Spaß am Radsport hat der dreimalige Weltmeister, der im Januar sein

28.10.2020Vegni fordert Bestrafung von EF und Jumbo - Visma

(rsn) - Giro-Renndirektor Mauro Vegni fordert Sanktionen gegen die Teams EF und Jumbo - Visma wegen deren Verhalten im Zusammenhang mit der Corona-Politik der Italien-Rundfahrt. Jumbo - Visma hatte da

27.10.2020Giro-Sieger Geoghegan Hart erhält 314.781 Euro Preisgeld

(rsn) - Tao Geoghegan Hart und sein Team Ineos Grenadiers haben beim 103. Giro d’Italia mit sieben Etappenerfolgen und dem Gesamtsieg nicht nur in sportlicher Hinsicht groß abgeräumt, sondern füh

27.10.2020Brailsford begeistert die neue Ineos-Fahrweise

(rsn) - Die bisherigen Grand-Tour-Siege von Ineos Grenadiers kamen alle nach dem gleichen Schema zustande. Zunächst hiel die Mannschaft das Feld zusammen, erhöhte dann im Schlussanstieg das Tempo, e

27.10.2020Trek-Segafredo-Chef Guercilena zweifelt nicht an Nibali

(rsn) - Vincenzo Nibali (Trek - Segafredo) war beim 103. Giro d’Italia erwartungsgemäß bester Italiener. Das kann den zweimaligen Gesamtsieger aber kaum darüber hinwegtrösten, dass er im Kampf u

26.10.2020Campenaerts: “Vielleicht war Giro-Zeitfahren mein letztes Rennen“

(rsn) - Mit seinem zweiten Platz im Zeitfahren von Mailand beendete Victor Campenaerts (NTT) den Giro d’Italia zwar mit einem Erfolgserlebnis. Doch der Stundenweltrekordler weiß immer noch nicht, w

26.10.2020Sunweb-Duo Hindley und Kelderman beim Giro 2021 Gegner?

(rsn) - Am Ende kam es für Team Sunweb so, wie es sich bereits nach der letzten Giro-Bergetappe angedeutet hatte: Jai Hindley konnte sein in Sestriere erobertes Rosa Trikot nicht verteidigen und wurd

26.10.2020Geoghegan Hart: Schulschwänzer, Kanalschwimmer, Giro-Sieger

(rsn) - Vor eineinhalb Jahren sorgte Tao Geoghegan Hart (Ineos – Grenadiers) mit seinem Teamkollegen Pavel Sivakov bei der Tour of the Alps für Furore, als die beiden ihre jeweils ersten Siege im P

Weitere Radsportnachrichten

14.11.2024Bardet: “Sinnlos, an ethischen Radsport zu glauben“

(rsn) - Es war ein durchaus ungewöhnlicher Zeitpunkt, als Romain Bardet im Sommer, kurz vor der Tour de France, sein Karriereende ankündigte. Mindestens genauso ungewöhnlich ist das Rennen, das sei

14.11.2024Quintana beendet Spekulationen, Bonnamour gibt Kampf gegen Dopingsperre auf

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

14.11.2024Rhodos-Prolog-Experte mit Sturzpech im stärksten Rennen

(rsn) – Seine elfte Saison auf KT-Niveau ragt zwar nicht als seine beste heraus, dennoch zeigte Lukas Meiler (Team Vorarlberg) auch 2024, was er drauf hat. Seine beste Platzierung gelang ihm dabei

14.11.2024Die Radsport-News-Jahresrangliste 2024

(rsn) - Auch diesmal starten wir am 1. November mit unserer Jahresrangliste. Wir haben alle UCI-Rennen der vergangenen zwölf Monate (1. November 2023 bis 31. Oktober 2024) ausgewertet - nach unserem

14.11.2024Schädlich übernimmt die deutschen Ausdauer-Spezialisten

(rsn) – Der Bund Deutscher Radfahrer hat einen neuen Nationaltrainer auf der Bahn für den Bereich Ausdauer. Lucas Schädlich, der seit 2019 die deutschen Juniorinnen unter seinen Fittichen hatte, Ã

14.11.2024Im Überblick: Die Transfers der Männer-Profiteams für 2025

(rsn) – Nachdem zahlreiche Transfergerüchte seit Monaten in der Radsportwelt zirkulieren, dürfen die Profimannschaften seit dem 1. August ihre Zu- und Abgänge offiziell bekanntgeben. Radsport

14.11.2024Schär wird Schweizer Nationaltrainer

(rsn) – Marc Hirschi, Stefan Küng und Co. haben einen neuen Nationaltrainer. Michael Schär wird mit Jahresbeginn 2025 die Verantwortung für die Schweizer Männer in den Bereichen Elite und U23 ü

14.11.2024Lotto Kern - Haus wird Development-Team von Ineos Grenadiers

(rsn) – In den vergangenen beiden Jahren war das deutsche Kontinental-Team Lotto Kern - Haus PSD Bank sogenannter Development-Partner von Red Bull – Bora – hansgrohe. Ab der kommenden Saison wi

14.11.2024Meisen kündigt baldiges Karriereende an

(rsn) – “Spätestens im Januar ist Schluss“, kündigte Marcel Meisen (Stevens) gegenüber RSN an. Der 35-Jährige ist in seine letzte Cross-Saison gestartet und will diese nicht mehr ganz zu End

14.11.2024Traumszenario mit kurzem Anfangsschock

(rsn) – Unverhofft kommt oft – dieser Spruch traf in dieser Saison auch auf Meo Amann zu. Mit dem Elite-Team Embrace The World in die Saison gestartet, bewarb er sich im Sommer auf einen Platz bei

13.11.2024Auch ein kurioser erster UCI-Sieg reichte nicht zum Profivertrag

(rsn) – Auch wenn er in dieser Saison seinen ersten UCI-Sieg einfahren konnte, so gelang Roman Duckert (Storck – Metropol) am Ende seiner U23-Zeit nicht der Sprung in ein Profiteam. Deshalb wird e

13.11.2024Ein Jahr geprägt von Stürzen und viel Unglück

(rsn) – Eigentlich wollte Mikà Heming (Tudor Pro Cycling) 2024 so richtig durchstarten. Die Klassikerkampagne in Belgien hatte er sich als erstes Saisonhighlight gesetzt, doch diese endete für den

RADRENNEN HEUTE
  • Keine Termine