Watterotts Tour-Etappenvorschau

Ein Tag voller Ãœberraschungen

Von Herbert Watterott

19.07.2011  |  19.Juli: 16.Etappe Saint-Paul-Trois-Châteaux - Gap 162,5 km

(rsn) - Gut zwei Wochen sind die Fahrer der Tour de France seit dem Start am 2.Juli in der Vendée am Atlantik nun schon unterwegs und haben genau 3.430 Kilometer in den Beinen. Es verbleiben aber noch 789 Kilometer und fünf intensive Tage in Alpen mit vier Bergetappen und dann das alles entscheidende Einzelzeitfahren in Grenoble.

Von 198 gestarteten Fahrern sind noch 170 im Rennen, 28 durch Stürze, Krankheiten und Zeitüberschreitung ausgeschieden. Sie haben sich bei Wind und Wetter durch die Bretagne und die Normandie gekämpft, das Zentralmassiv mit den kurzen und knackigen Steigungen bewältigt und sich drei Tage durch die Pyrenäen gequält.

Nach dem zweiten Ruhetag gestern im radsportfreundlichen Departement Drôme liegen nun die Alpen vor dem geschrumpften Fahrerfeld. Die Route verläuft kontinuierlich in nordöstlicher Richtung durch die beiden Departements Drôme und Hautes-Alpes. Es ist eine Etappe, die voller Überraschungen stecken kann.

Der Startort Saint-Paul-Trois-Châteaux liegt 99m über dem Meer, dann folgt eine Strecke mit vielen Anstiegen bis zum einzigen Bergpreis der 2. Kategorie in 1.268 m Höhe am Col de Manse. Der Anstieg ist 9,2 Kilometer lang und beinhaltet eine Durchschnittssteigung von 5%. Die Passhöhe überqueren die Fahrer nur 11,5 Kilometer vor dem Ziel, das nach einer rasenden Abfahrt hinunter nach Gap erreicht wird.

Schon 1972 war hier die Radsportwelt versammelt, als es um das Regenbogentrikot im Straßenrennen ging. Damals sah der Italiener Franco Bitossi schon wie der sichere Sieger aus, aber auf den schier endlos ansteigenden Zielgeraden wurde Bitossi noch von seinem Landsmann Marino Basso abgefangen, der überraschend neuer Weltmeister wurde.

Viele Rennfahrer fürchten den berühmt- berüchtigten „Jour sans“ wie die Franzosen sagen, den „ Tag ohne“, bei dem sich oft eine Schwäche einstellt, an man keinen Rhythmus findet, schwere Beine bekommt und schnell in Rückstand geraten kann.

Es könnte heute wieder der Tag der Ausreißer werden. Mehr als die Hälfte des Feldes wird kein Interesse haben, sehr viel Kraft zu investieren, um am Col de Manse ganz vorne zu sein. Die Favoriten auf den Gesamtsieg werden sich im Feld verstecken, um Kräfte zu sparen für die Kletterpartien der nächsten Tage nach Sestrière/Italien, hinauf zum Galibier und nach Alpe d’Huez.

Die Sprinter werden sich vor der letzten Steigung 23,5 Kilometer vor dem Ziel zusammenfinden und im Gruppetto, im Feld der Abgeschlagenen. Die Gefahr, mit zu großem Rückstand nach Kontrollschluss anzukommen und aus der Gesamtwertung zu fliegen, ist auf dieser Etappe nicht allzu groß.

Also bleiben Fahrer übrig, die schon früh einen Angriff starten, um sich entscheidend vom nicht so aufmerksamen Feld abzusetzen. Kandidaten hierfür sind etwa der Spanier Juan Antonio Flecha, der Belgische Meister Philippe Gilbert oder Sylvain Chavanel, der Straßenmeister aus Frankreich. Vielleicht wird auch ein deutscher Fahrer in der Spitzengruppe mit dabei sein. Jens Voigt aus Berlin hat das Zeug, auf solch einer Etappe sein ganzes Können zu zeigen und seine Kämpferqualitäten unter Beweis zu stellen, wenn er von der Rolle als Helfer seiner beiden Kapitäne Frank und Andy Schleck an diesem Tag entbunden würde. Nach der Tempobolzerei auf vielen Etappen im Wind und den Stürzen in den Pyrenäen wäre es der verdiente Lohn für harte Mannschaftsarbeit.

Es wäre nicht das erste Mal Jens Voigt in einer Fluchtgruppe zu sehen, denn in den vergangenen Jahren gehörte er, der zum 14.Mal bei der Tour dabei ist und damit zu Erik Zabel aufschließt, zu den kampffreudigsten Fahrern. Belohnt wurde er mit zwei Etappensiegen 2001 in Sarran und 2006 in Montélimar, der Stadt des Nougats sowie zwei Tage im Gelben Trikot.

Zum ersten Mal kommt die Tour in den 9.000 Seelen Ort Saint-Paul-Trois-Châteaux, gelegen unweit der Autobahn A7 zwischen Montélimar im Norden und Orange im Süden. Seit Wochen hat sich dieses charmante Fleckchen Erde im provençalischen Teil des Departements Drôme auf die Tour vorbereitet und herausgeputzt.

Dieser Ort liegt eingebettet zwischen Weinbergen und Lavendelfeldern. In der Umgebung findet man auch die berühmte Trüffelsorte „diamant noir“ (schwarzer Diamant), denn dort ist die Übereinstimmung zwischen Klima, Boden und Baum (Eiche) optimal. Von hier kommen 60% der nationalen Trüffelproduktion Frankreichs. Saint-Paul-Troix-Châteaux ist ein ausgezeichneter Platz für Gastronomie, zahlreiche hervorragende Restaurants, für einen ausgezeichneten Wein (Grignan-les-Adhémar) und berühmt auch für das landesweit bekannte Soul Jazzfestival auf dem Place Castellane.

Majestätisch thront die mittelalterliche Kathedrale im romanischen Stil erbaut in der Mitte des Ortes, wo sich der Tour-Tross gegen Mittag versammelt und der Tourchef Christian Prudhomme um 13.15 Uhr die Startflagge senkt.

Spätestens vor dem Anstieg zum Col de Manse, nach genau 139 Kilometern scheiden sich die Geister, und der Kampf um den Tagessieg und die vorderen Plätze beginnt. Mit vorne dabei könnte auch der aktuelle norwegische Straßen-Weltmeister und Etappensieger von Lourdes, Thor Hushovd, der (wie seinerzeit Erik Zabel) von den Sprintern wohl die besten Kletterqualitäten hat und sich noch Punkte im Kampf um das Grüne Trikot holen könnte. Schon 2005 und 2009 erkämpfte sich Hushovd mit seiner aggressiven Fahrweise im Sprint und im Gebirge das begehrte Maillot Vert.

Im Jahre 1953, als die Tour de France 50 Jahre alt wurde, erhielt der Schweizerr Schweizer Fritz Schär als erster Fahrer dieses Spezialtrikot für den Punktbesten, das damals durch eine Baumschule gesponsert wurde - daher die Farbe grün. Aber auch deutsche Profis spielten in dieser Spezialwertung eine große Rolle. 1962 war Rudi Altig, 1990 dann Olaf Ludwig, beide trugen Grün bis Paris. Von 1996 bis 2001 stellte Erik Zabel den immer noch gültigen Rekord von sechs Grünen Trikots nacheinander auf. Insgesamt hat Erik Zabel 88 Grüne Trikots mit nach Hause genommen.

Zabel war es auch, der als bisher einziger Deutscher in Gap gewinnen konnte und zwar 1996, also vor fünfzehn Jahren, als er im Massensprint den Usbeken Djamolidine Abdushaparov und Andrea Ferrigato aus Italien bezwingen konnte.

Gap ist die Hauptstadt des Departements Hautes-Alpes und liegt in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, an der Route Napoléon. Hier vermischt sich die Lieblichkeit der Provence mit der frischen Luft der Alpen. Gap hat übrigens Städtepartnerschaften mit Traunstein in Bayern und mit Pinerolo in Italien, wo die Tour morgen nach der 17.Etappe Station machen wird.

Nach der Passage auf dem Col de Manse (9,5 km Anstieg mit 5,2%) beginnt die kurvige Abfahrt hinunter nach Gap. Dabei passieren die Fahrer La Rochette, wo 2003 am französischen Nationalfeiertag dem spanischen Mitfavorit Joseba Beloki auf dem aufgeweichten Asphalt der Reifen des Hinterrades absprang. Der Baske stürzte schwer und musste aufgeben. Beloki, übrigens früherer Zimmergenosse von Marcel Wüst aus Köln, kam nie mehr an seine damalige Form heran und beendete seine Karriere.

Lance Armstrong, der unmittelbar hinter dem lustigen Spanier fuhr, konnte in letzter Sekunde ausweichen, überquerte im Stile eines Querfeldeinchampions eine große Wiese und kam wieder auf die Straße zurück, kurz bevor die Verfolger mit Jan Ullrich heran schossen.

Der Kasache Alexander Vinokourov vom Team Telekom wurde damals Tagessieger und Armstrong behielt das Gelbe Trikot, das er bis Paris zu seinem fünften Tour de France-Sieg verteidigte.Inzwischen ist Alexander Vinokourov nach seinem schweren Sturz und Oberschenkelhalsbruch in Paris operiert worden und hat vorgestern endgültig seinen Rücktritt erklärt.

. In Gap siegten aber auch andere große Namen wie zum Beispiel André Leducq/Frankreich, Raphael Géminiani/Frankreich, Wout Wagtmans/Niederlande, Jean Forestier/Frankreich, Jelle Nijdam/Niederlande, Marco Lietti/Italien und Pierrick Fédrigo/Frankreich 2006. Zwei weitere interessante Reminiszenzen gibt es noch:

Im heutigen Zielort Gap gewann 1958 der Italiener Gastone Nencini den Dreierspurt vor dem baumlangen Franzosen Raphael Géminiani, der weiter in Gelb blieb und dem fünfmaligen Tour-Sieger Jacques Anquetil aus Frankreich. Auf dieser Etappe am 14.Juli, dem französischen Nationalfeiertag, von Carpentras am Fuße des Mont Ventoux in der Provence nach Gap in den Alpen verlor der luxemburgische Kletterspezialist und Mitfavorit Charly Gaul 10:49 Minuten auf Tagessieger Nencini. Der Toursieg war in weite Ferne gerückt.

Aber zwei Tage später flog Charly Gaul bei strömendem Regen und Sturm über die Cols der Chartreuse zwischen Briançon und Aix-les-Bains. Er hatte im Ziel einen Vorsprung von 7:50 Minuten und bekam ab diesem Tag den Beinamen „Engel der Berge“. Gaul gewann am Ende noch die Tour mit 3:10 Minuten Vorsprung vor dem Italiener Vito Favero.

Seine beiden luxemburgischen Landsleute Frank und Andy Schleck kommen 53 Jahre nach Charly Gaul für den Gesamtsieg bei dieser 98. Tour de France in Frage. Denn sie liegen aussichtsreich an zweiter und vierter Stelle der Gesamtwertung.

Das begehrte Gelbe Trikot für den Tour de France-Sieger ist in greifbare Nähe gerückt. Heute vor 92 Jahren, genau am 19.Juli 1919, bekam der Franzose Eugène Christophe vor dem Start zur 11.Etappe von Grenoble nach Genf, das erste Gelbe Trickot in der Geschichte der Tour de France vom Gründer Henri Desgrange übergestreift. Endlich konnten die Zuschauer am Straßenrand den Spitzenreiter in der Gesamtwertung auch während des Rennens erkennen.

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