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02.07.2014 | (rsn) - Andreas Schillinger und Paul Voß geben im Alter von 30 beziehungsweise 28 Jahren für das deutsche Team NetApp-Endura ihr Debüt bei der Tour de France. Felix Mattis hat sich für radsport-news.com am Abend vor den deutschen Meisterschaften mit beiden in Baunatal getroffen, um über die späte Erfüllung ihrer Jugendträume zu sprechen - und dabei hat er nicht nur erfahren, dass der Tour-Auftakt in England mehr Gefahren birgt als die Kopfsteinpflaster-Etappe an Tag fünf.
Herr Schillinger, am zweiten Tour-Sonntag, dem 13. Juli, werden Sie 31 Jahre alt - und abends ist das Finale der Fußball-WM. Kann man da feiern, obwohl am nächsten Tag an der Planche des Belles Filles die erste Bergankunft ansteht?
Paul Voß: Da wissen Sie mehr als wir...
Andreas Schillinger: Ja, da habe ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken drüber gemacht. Aber André Greipel hat drei Tage später Geburtstag - vielleicht feiern wir da dann einfach zusammen rein, denn am 15. Juli ist Ruhetag.
Den Ruhetag haben Sie sich also dann doch schon mal gemerkt?
Schillinger: Ja, aber auch die Etappen hat man sich natürlich schon mal angeschaut. Nur im Detail, welche an welchem Tag ist, das habe ich nicht im Kopf.
Eine Woche nach Ihrer Nominierung und wenige Tage, bevor in Leeds endlich der Traum vom Tour-Start in Erfüllung geht: Wie ist die Stimmung - Vorfreude, Anspannung...?
Schillinger: Es ist ein Mix aus allem. Ich freue mich riesig auf die Tour, aber man merkt natürlich auch, dass das viel mehr Interesse von normalen Leuten und der Presse mit sich bringt. Deshalb bin ich schon auch etwas angespannter, als ich es zum Beispiel beim Giro damals war.
Voß: Ich bin bislang noch ziemlich entspannt. Aber das wird wahrscheinlich kommen, wenn ich nach Leeds fahre.
Die Tour ist etwas Besonderes - auch in der Art und Weise, wie dort von Anfang an gefahren wird. Wie stellt man sich auf das hohe Tempo gerade in der ersten Woche ein?
Voß: Das ist immerhin schon meine fünfte große Rundfahrt. Deshalb werden nicht so sehr viele Überraschungen auf mich warten, denke ich. Klar wird das Tempo hoch sein, aber das ist weniger das Problem als eher die Nervosität, weil jeder auf den engen, englischen Straßen vorne sein will. Aber insgesamt weiß jeder, der zur Tour fährt, worauf er sich da einlässt und dass gerade die erste Woche nervenaufreibend wird. Man fängt erst an, das alles zu genießen, wenn die ersten Berge gefahren sind und die Gesamtwertung vorsortiert wurde. So ist es aber auch bei Vuelta und Giro.
Von den vier Wildcard-Teams sind zwei französisch und eines, IAM aus der Schweiz, hat mit Sylvain Chavanel einen Mann im Kader, ohne den man sich die Tour nicht vorstellen kann. Diese drei waren quasi gesetzt. Ist NetApp-Endura da so ein wenig der Außenseiter und muss sich in besonderer Weise beweisen?
Schillinger: Beweisen muss sich bei der Tour jedes Team. Ich denke das Besondere bei uns ist, dass wir wirklich neun Fahrer sind, die alle zum ersten Mal dabei sein werden. Aber das Team hat sich in den letzten Jahren in die richtige Richtung entwickelt und ist dem Ziel Tour-Start immer näher gekommen.
Voß: Ich würde auch nicht sagen, dass wir Außenseiter sind. Wir haben gerade bei der Vuelta letztes Jahr oder auch bei großen Rennen in dieser Saison häufig bewiesen, wozu wir in der Lage sind. Wir wollen uns selbst etwas beweisen, aber wir haben keinen Druck von außen, dass wir es unbedingt irgendwem zeigen müssten. Wir werden etwas zeigen, definitiv! Aber ich glaube nicht, dass da eine Riesenlast auf uns liegt.
Außerhalb der engeren Radsport-Welt ist NetApp-Endura als erstes deutsches Tour-Team seit vier Jahren in Deutschland bislang kein Name, mit dem viele etwas anfangen können.
Schillinger: Da können wir nicht viel machen. Wir können nur gut Rennen fahren...
Voß: ...und der Rest ist die Sache der Presseleute. Manchmal werden wir kleiner gemacht als wir sind - gerade in der deutschen Presse - und gar nicht wahrgenommen. Aber daran können wir bei der Tour arbeiten und zeigen, dass es ein deutsches Team gibt, das auf hohem Niveau fährt.
Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass NetApp-Endura mit ausländischen Sponsoren und internationalen Kapitänen nicht als deutsches Team wahrgenommen wird?
Voß: Das kann schon sein, aber das ist auch die typisch deutsche Denkweise: Ein deutsches Team ist nur, wo viele deutsche Fahrer sind. Aber wenn man bei Bayern München schaut - wie viele deutsche Spieler haben die? Das ist ja auch nichts anderes.
André Schulze (Sportlicher Leiter): Zumal auch unsere Teamleitung deutsch ist. Es war nur noch nie ein großer deutscher Fahrer im Team, was aber einfach auch finanzielle Gründe hat. Bei uns wird aus relativ wenig viel gemacht - mit großem Engagement und Kampfgeist von allen Seiten: Rennfahrern, Sportlicher Leitung, Physiotherapeuten und so weiter. Ob man sich Namen und Fahrer leisten kann, ist eine finanzielle Frage und wir sind wahrscheinlich eines der Tour-Teams mit dem niedrigsten Budget in den letzten zehn Jahren.
Voß: Wobei ich finde, dass man sich daran nicht messen sollte. Ich fahre hier im Team, würde die gleiche Leistung aber auch bei Trek bringen. Das macht für mich keinen Unterschied. Natürlich ist das Budget kleiner, aber man kann mit seinen eigenen Mitteln und mit einem guten Auge viel aus dem machen, was man hat.
Bei so vielen Nationalitäten im Team: Wie läuft da die Kommunikation ab?
Voß: Ich lebe in Girona und spreche eigentlich jeden Tag Englisch. Von daher fällt es mir manchmal sogar schwer, durchgängig Deutsch zu reden. Wenn wir unter uns am Tisch sitzen oder auf dem Zimmer reden wir schon Deutsch, aber sonst im Team Englisch.
Schillinger: Auch die Gespräche gestalten sich eigentlich ziemlich international - manche Wörter kommen aus dem Spanischen, manches ist Deutsch. Wenn wir uns mit dem ganzen Team zum Essen treffen sagt zum Beispiel fast jeder ‚Mahlzeit‘. Das macht schon Spaß: Wir haben die anderen etwas eingebayrischt.
‚Servus‘ auch?
Schillinger: Naa, ich kämpf‘, aber bisher noch nicht.
Teilen die beiden Deutschen im Team dann während der Tour auch das Zimmer?
Voß: Ich denke schon, ja.
Wer entscheidet das? Die Mannschaftsleitung?
Voß: Naja, also ich lasse mir nicht gerne vorschreiben, mit wem ich drei Wochen das Zimmer teile. Das sind so Dinge, bei denen man schon die freie Wahl haben sollte bei einer so langen Rundfahrt: Mit wem man auf einem Zimmer ist und zu welchem Masseur man geht. Das sollte schon jemand sein, mit dem man gerne die Zeit verbringt.
Das war ein Kompliment, Herr Schillinger!
Beide lachen.
Sie werden in erster Linie als Helfer für die Kapitäne Leopold König und Tiago Machado fahren. Ist das einzige persönliche Ziel beim Debüt das Ankommen in Paris?
Schillinger: Klar, das Ziel haben wir auch. Für mich ist es so, dass ich zu 100 Prozent im Dienst der Mannschaft stehe. Zum Beispiel auf der 5. Etappe geht es über einige Passagen von Paris-Roubaix. Da habe ich eine gewisse Streckenkenntnis. Deshalb werde ich dort gegenüber Leo einiges an Verantwortung tragen. Es geht also schon um mehr, als nur anzukommen.
Voß: Ich will auch Teil des Rennens sein, nicht nur Passagier spielen, sondern auch selbst etwas machen.
Gegenüber dem Tour-Magazin haben Sie schon vom Bergtrikot an den ersten Tagen in England gesprochen...
Voß: Ja, die 2. Etappe mit neun Bergwertungen ist prädestiniert dafür. Da überlege ich, aufs Trikot zu fahren. Aber wir müssen auch schauen, was die Interessen des Teams sind - ob wir freie Fahrt bekommen oder jeder gebraucht wird, um Leo und Tiago vorne im Feld zu halten, was auf dieser Etappe schwer genug wird. Es ist weiterhin ein Ziel von mir, aber es hängt davon ab, was das Team entscheidet.
Apropos Ausreißergruppen: Für Wildcard-Teams ist es fast obligatorisch, immer wieder früh anzugreifen. NetApp-Endura geht aber mit zwei Kapitänen ins Rennen, die in der Gesamtwertung die Top 15 angreifen wollen. Ist da überhaupt noch Platz für Ausreißversuche?
Voß: Bei der Vuelta im vergangenen Jahr haben wir das zum Beispiel bewusst vermieden. Da haben wir vorher besprochen, dass wir in keine unnötigen Gruppen gehen - also in keine Fernsehgruppen. Das hat sich letztendlich auch ausgezahlt, weil wir dadurch gegen Ende der Rundfahrt noch stark genug waren, um auf Etappensiege zu fahren. Aber mal sehen, wie das bei der Tour mit dieser viel größeren Medienpräsenz wird. Ich hoffe, wir machen es wie bei der Vuelta - das macht’s einfacher für uns Fahrer: Erst zurückhalten und dann etwas auf den Etappen zeigen, die uns wirklich liegen - und das sind nun mal die mittelschweren bis schweren Etappen im Gebirge.
Sehen Sie die Tour de France auch als Möglichkeit, Eigenwerbung zu betreiben, um vielleicht einen WorldTour-Vertrag zu bekommen?
Schillinger: Klar macht man sich Gedanken über seine Zukunft. Aktuell muss ich sagen, dass ich mich bei NetApp-Endura wohlfühle. Aber natürlich muss man immer verhandeln. Das ist ein Geschäft und jeder will sein Geld verdienen - auch wenn es viel Spaß macht, so ist es doch ein Beruf. Und wahrscheinlich kann niemand, der irgendwo arbeitet, sagen, dass er dort für immer und ewig bleiben wird.
Voß: Wenn ein WorldTour-Team anruft, stehe ich für Gespräche bereit. Aber ich sehe es nicht als notwendig an, das Team zu wechseln. Ich fühle mich hier wohl und habe meine Freiheiten. Bei einem WorldTour-Team würde ich keine besseren Rennen fahren - das ist es ja: Wir fahren mit NetApp-Endura so große Rennen, dass der Aufstieg eigentlich gar nicht nötig ist. Zumal man dann auch Rennen fahren müsste, die man vielleicht gar nicht fahren will.
Sie haben die 5. Etappe schon angesprochen: Das Kopfsteinpflaster sehen viele als Risikofaktor und unnötiges Spektakel. Was denken Sie denn darüber?
Voß: Die Etappe ist eigentlich echt noch okay. Ich glaube eher, dass die 2. Etappe in England ein größeres Hindernis wird. Das Kopfsteinpflaster in Nordfrankreich sind die meisten Tour-Starter irgendwann schon mal gefahren - und da sind die Straßen zwischendurch wenigstens relativ breit im Gegensatz zu denen in England, die die ganze Zeit zwischen Büschen und Steinmauern links-rechts-hoch-runter gehen. Ich glaube, die 2. Etappe ist noch viel gefährlicher als die 5. Etappe. Damals 2010, okay: Da ist Fränk Schleck auf dem Kopfsteinpflaster ausgeschieden, aber an sich ist nicht viel passiert. Die Favoriten sind zusammen angekommen. In England kann es jetzt aber richtig kompliziert und stressig werden. Die Gegend ist wirklich unangenehm.
Zumal es wohl regnen soll...
Voß: Ja gut, das ist England.
Im Frühjahr haben Sie sich an der Hand verletzt. Wie sehr hat Sie das zurückgeworfen - oder war die Zwangspause vielleicht sogar gut, um jetzt frischer zur Tour zu kommen?
Voß: Als ich gestürzt bin, war das das i-Tüpfelchen auf ein sowieso schon verkorkstes Frühjahr. Von daher habe ich es tatsächlich recht schnell positiv gesehen und die zwei Wochen ohne Rad zur Regeneration genutzt. Das könnte in Richtung Tour sogar wirklich geholfen haben, denn so viel Ruhe hätte ich mir unverletzt nicht gegönnt.
Abschließend wollen wir einmal kurz träumen: Was wäre Ihr persönliches Wunschszenario für die kommenden vier Wochen?
Voß: Das ist ganz einfach: Ein Etappensieg wäre für jeden ein Traum, glaube ich, oder?
Schillinger: Das ist ein Traum, ja!
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