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06.12.2015 | (rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Für Guido Scholl war es der Triumph von Vincenzo Nibali (Astana) bei der Lombardei-Rundfahrt, als der Italiener nach einer über weite Strecken enttäuschend verlaufenden Saison sein erstes Radsport-Monument gewinnen konnte.
Vincenzo Nibali hat zweifellos kein leichtes Jahr 2015 hinter sich: Die Tour de France lief für den Titelverteidiger nicht nach Wunsch, den Giro d'Italia hatte der Astana-Profi ausgelassen, und bei der Vuelta a Espana flog er noch in der ersten Woche raus, weil er sich vom Teamwagen hatte ziehen lassen. Umso höher ist Nibalis Sieg bei „Il Lombaria“ einzustufen, denn damit rettete er nicht nur seine Saison sondern gewann erstmals auch eines der fünf „Monumente“.
Mit seinem Sieg vervollständigte der mittlerweile 31-Jährige sein ohnehin schon beeindruckendes Palmares: Zusätzlich zu Siegen bei allen drei großen Landesrundfahrten befindet sich nun auch endlich ein großer Klassiker in der Liste. Damit kehrte der „Hai von Messina“ gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück, denn 2006 setzte Nibali sein erstes Ausrufezeichen im Profiradsport mit dem Sieg beim GP Ouest France.
Nicht zuletzt deshalb prophezeiten ihm Beobachter große Erfolge sowohl bei den Eintagesrennen als auch bei den Rundfahrten, denn der Italiener kam gut über die Berge, war stark im Kampf gegen die Uhr und verfügte über eine enorme Physis. Bei den dreiwöchigen Landesrundfahrten bestätigte Nibali sein Potenzial ab 2009 mit zehn Top-10-Plätzen und drei Gesamtsiegen.
Es gelangen ihm zudem Erfolge bei kleineren Etappen- und Eintagesrennen. Doch mit einem echten Klassiker-Sieg schien es einfach nicht klappen zu wollen – bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und Mailand-San Remo fuhr Nibali immerhin aufs Podest.
Sein Triumph bei der Lombardei-Rundfahrt im Oktober dieses Jahres war aber noch aus einem anderen Grund ein Befreiungsschlag. Einerseits tütete Nibali den auch aus italienischer Sicht ungemein wertvollen Sieg bei einem der traditionsreichsten Radrennen der Welt ein. Doch er setzte auch am Ende einer bis dahin mäßigen Saison ein zweites Glanzlicht nach seinem Tour-Etappensieg. Und dieses zweite Glanzlicht gelang ihm darüber hinaus, als er mit dem Rücken zur Wand stand.
Denn in Italien wandten sich die Fans zunehmend dem aufstrebenden Fabio Aru zu. Nibalis sechs Jahre jüngerer Teamkollege wurde beim Giro – als der Kapitän sich diskret auf die Tour vorbereitete – nur von Alberto Contador besiegt. In Frankreich wollte Nibali dann seinen Vorjahressieg wiederholen, büßte jedoch bereits in der ersten Woche wertvolle Zeit ein und war spätestens nach der ersten Bergankunft in den Pyrenäen hoffnungslos zurückgefallen.
Doch schon da zeigte er die Qualitäten eines Champions: In den Alpen schlug Nibali zurück, gewann eine Bergetappe und verbesserte sich noch auf einen akzeptablen vierten Gesamtrang. Im Astana-Team wuchs dennoch die Unzufriedenheit mit dem meist stillen, aber ebenso beharrlich-dickköpfigen Star. Spätestens sein peinliches Vuelta-Aus ließ auch teamintern das Pendel in Richtung Aru ausschlagen. Schließlich fuhr der 25-Jährige den Gesamtsieg bei der Spanien-Rundfahrt ein und blieb dabei – im Gegensatz zum Giro – ohne nennenswerte Schwächen.
Ein psychisch weniger starker Sportler hätte an dem aufkommenden Druck zerbrechen können. Doch Nibali blieb cool. Dabei spielte auch eine Rolle, dass er in der Lage war, das Lamentieren über die Entscheidung der Vuelta-Juroren, ihn aus dem Rennen zu nehmen, schnell abzustellen und die Schuld bei sich zu suchen. Schon bald folgten Siege, Nibali gewann in der Heimat die Coppa Bernocchi und Tre Valle Varesine.
Doch von einer ordentlichen Saison hätte der Italiener trotzdem noch nicht sprechen können, dazu musste ein großer Sieg her. Bei der Weltmeisterschaft funktionierte es nicht, also blieb noch genau eine Chance: die Lombardei-Rundfahrt, der letzte große Klassiker des Jahres. Dort wartete Nibali bis zum vorletzten Berg, um seine Gegner scharf zu testen. Seine Angriffe am Civiglio genügten aber nicht – die Konkurrenz, allen voran die jüngeren Esteban Chaves und Thibaut Pinot, ließ sich nicht abschütteln.
Was macht ein Champion in einer solchen Situation? Wenn er Nibali heißt und zu den besten Abfahrern im Peloton gehört, dann wartet er nicht auf den allerletzten Berg, sondern wirft auf dem Weg bergrunter alles in die Waagschale. Halsbrecherisch und mehrfach an der Grenze zum Sturz fuhr er sich ein Polster heraus, mehrmals kam er den Begleitmotorrädern und den Mauern am Straßenrand gefährlich nahe – seine Entschlossenheit war der entscheidende Faktor.
Am Schluss zahlte sich das hohe Risiko voll aus. Nibali gewann nicht nur seinen ersten großen Klassiker, er konnte zudem den Zieleinlauf als Solist auskosten und den Moment genießen, der ihn endgültig in die Reihe der ganz großen italienischen Radsportler brachte, auf eine Stufe mit Stars wie Gianni Bugno, Francesco Moser und Felice Gimondi.
Als sollte es ein Symbol für eben diesen Schritt sein, wehte Nibali kurz vor der Ziellinie eine italienische Nationalflagge entgegen, verfing sich aber nicht etwa in den Speichen, sondern landete vor seiner stolz geschwellten Brust – ein Augenblick wie aus dem Bilderbuch. Oder aus einem Hollywood-Schmachtfetzen.
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