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06.12.2022 | (rsn) – Es war ein Moment für die Geschichtsbücher: Als sich Wout Van Aert bei den Hamburger Cyclassics auf dem Weg zum Zielstrich in der Mönckebergstraße mehrmals über die linke Schulter umsah, überraschte ihn Marco Haller mit seinem Antritt rechts außen herum und spurtete unwiderstehlich zu seinem bislang größten Karrieresieg – die "cherry on the cake", wie Haller radsport-news.com im Jahresrückblick sagte.
___STEADY_PAYWALL___ "Es war die erfolgreichste Saison meiner Karriere. Das ist, glaube ich, amtlich", so der Kärntner, der zu Jahresbeginn von Bahrain Victorious zu Bora – hansgrohe gewechselt war und zunächst einige schwierige Monate durchlebte, um das Blatt dann aber ab Mai zu wenden.
"Natürlich muss ich das Frühjahr ausblenden. Denn das war mit Covid & Co. schon ein bissl mühsam. Es war mental sehr schwer, dem ganzen Feld bei den Klassikern hinterherzufahren", gab er zu. "Aber mit Norwegen im Mai, dem Tour-de-France-Ticket und dann Hamburg als 'cherry on the cake' war es trotzdem die beste Saison."
Marco Haller (Mitte) jubelt mit Nils Politt (links) und Patrick Konrad (rechts) über seinen Triumph in Hamburg. | Foto: Cor Vos
Denn wie so viele im Team Bora – hansgrohe, so gehörte auch Haller im Februar zu denen, die krank wurden und lange pausierten. Zwei Wochen ohne Training hatte die medizinische Abteilung des deutschen WorldTeams allen Corona-Patienten damals sicherheitshalber verordnet – egal wie die Symptome aussahen. Aus Angst vor Herzmuskelentzündungen ging die Sicherheit vernünftigerweise vor. Und so erreichte auch Haller seine ersten Saisonhöhepunkte, die Nordklassiker, ohne Top-Form.
Auf Mallorca Wattwerte wie nie gefahren
"Ich bin auf Mallorca eigentlich richtig gut in die Saison gestartet und habe mich auf ein richtig geiles Frühjahr gefreut, weil ich Wattwerte gefahren bin wie eigentlich noch nie. Aber eine Woche nach der Rückreise kam dann die Covid-Infektion – und das auch ziemlich langwierig. Ich hatte nicht großartig Fieber oder so, aber es hat sich gezogen. Und wenn dann mehrere Wochen Training fehlen, kannst du das nicht so schnell aufholen", erinnerte sich Haller nun.
Bei den Frühjahrsklassikern war Marco Haller dank einer Corona-Infektion aus dem Februar nicht in Top-Form und fuhr hinterher. | Foto: Cor Vos
Trotzdem fuhr der 31-Jährige alle großen Frühjahrsrennen, weil der Krankenstand im Team so eklatant war, dass auch ein geschwächter Haller noch zu den besten Optionen gehörte. An der Rennplanung änderte sich für ihn also kaum etwas. Nach den Klassikern folgte eine kurze Wettkampfpause, nur unterbrochen durch Eschborn-Frankfurt am 1. Mai, bevor Ende Mai mit der Tour of Norway die zweite Saisonhälte und auch die direkte Tour-de-France-Vorbereitung für Haller begann – und wie!
Auf der 4. Etappe des sechstägigen Rennens sprintete der Österreicher in Kristiansand zum Etappensieg – seinem ersten persönlichen Triumph seit über sechs Jahren und dem ersten Sprintsieg seit der Österreich-Rundfahrt 2014. Haller war einst als starkes Sprinttalent zu den Profis gekommen, über die Jahre entwickelte er sich aber mehr und mehr zum Anfahrer und wichtigen Helfer.
Lieber Helfer in der Champions League als Kleisklasse-Sprinter
"Ich habe nie die Qualität gehabt, in der Champions League Stürmer zu spielen. Aber ich hatte eben auch keine Lust, in der Kreisklasse Stürmer zu spielen. Eher als in der zweiten Kategorie zu gewinnen, war es immer mein Ziel, bei großen Rennen am Start zu sein und den Sprintern zu helfen", erklärte Haller seinen Werdegang. "Dass ich sprinten kann, weiß ich selbst, das wissen andere und das weiß auch das Team. Aber ich bin uneigennützig genug, um zu sagen: Andere sind eben noch schneller als ich. Ich denke, das ist auch ein Grund, warum ich mich so lange in dem Metier halte."
Der Sieg in Kristiansand in Norwegen war Hallers erster Sprintsieg seit der Österreich-Rundfahrt 2014 in Wien. | Foto: Cor Vos
Dennoch machte er keinen Hehl daraus, wie gut die Erfolge am 27. Mai auf der 232-Kilometer-Etappe der Tour of Norway und vor allem natürlich auch drei Monate später in Hamburg waren. "Wir haben grundsätzlich alle angefangen, Rad zu fahren, um Rennen zu gewinnen. Über die Jahre kristallisiert sich dann eine Rolle heraus. Aber natürlich war das eine große Genugtuung und Erleichterung und Bestätigung", so Haller.
Zur Belohnung für die starke Form gehörte er dann Anfang Juli auch zum Bora-Aufgebot für die Tour de France und unterstützte dort Aleksandr Vlasov dabei, Fünfter in der Gesamtwertung zu werden. Doch das Highlight folgte eben am 21. August in Hamburg. Gemeinsam mit seinem Landsmann Patrick Konrad saß Haller nach der letzten Überquerung des Wasebergs in der fünfköpfigen Spitzengruppe mit Van Aert, Quinten Hermans und Jhonatan Narvaez, die den Sieg schließlich unter sich ausmachte – auch weil Konrad Vollgas gab und die Gruppe vor dem jagenden Sprinterfeld hielt.
David gegen Goliath in Hamburg
Auf der Zielgeraden dann der clevere Schachzug von Haller, auf der längeren Außenbahn seinen Sprint zu lancieren, die Van Aert nicht im Blick hatte. So bekam er die entscheidenden Meter Vorsprung.
"Es war ein perfekt gefahrenes Rennen von meiner Mannschaft. Ich war nicht der klare Kapitän, sondern wir wollten das Rennen einfach schwer machen. Alle hatten Sprinter am Start, wir nicht", erinnerte er sich jetzt. "Der Sturz am Waseberg hat uns sicher in die Karten gespielt, denn wenn Christophe Laporte noch vorne bei Wout gewesen wäre, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Aber man muss eben da auch richtig positioniert sein. Das ist die Romantik des Radsports: Da kann ein kleiner David auch den Goliath schlagen, wenn an einem Tag mal alles passt."
So steht nach John Degenkolb, Alexander Kristoff, André Greipel, Caleb Ewan und dreimal Elia Viviani nun also Marco Haller in der Siegerliste der Cyclassics. "Das ist sicher eine Story, die ich meinen Enkelkindern erzählen werde. Das macht mich stolz! Und was das Ganze natürlich noch besonderer macht ist, dass Wout Van Aert an zweiter Stelle steht. Das zeigt, wie wichtig, wie schwer und wie geil der Sieg einfach war."
"Ich werde nicht leichtsinnig die Hand heben"
Für die kommende Saison plant Haller nun erneut seinen ersten Formhöhepunkt für die Klassiker, um danach einen zweiten Aufbau in Richtung Tour de France anzulegen, auch wenn sein Tour-Start alles andere als sicher sei. Trotz des Sieges in Hamburg habe sich an seiner Rolle für die Klassiker aber nichts verändert.
Seit 2015 stand Haller, bis auf 2018, als er nicht gesund war, immer am Start der Tour de France. | Foto: Cor Vos
"Ich bleibe natürlich auf dem Boden: Ich habe die theoretische Chance, bei einem Klassiker in Nordfrankreich oder Belgien aufs Podium zu fahren – schon immer. Aber ich bin jetzt elf Jahre Profi und mein bestes Ergebnis war vielleicht mal irgendwo die Top 10. (2021 war Haller Zehnter beim E3 Classic, Anm. d. Red.) Das zeigt, dass ganz andere Leute Favoriten sind. Da werde ich nicht leichtsinnig und hebe im Trainingslager die Hand und sage, dass ich da jetzt Kapitän sein will", erklärte er.
"Es ist immer wichtig, weiter davon zu träumen, um sich zu motivieren. Und da hat Hamburg sicher geholfen. Aber wenn Nils Politt zu seiner Überflieger-Form von 2019 zurückfindet und kontinuierlich in die Top 5 fahren kann, werden wir natürlich für Nils fahren", so Haller abschließend.
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