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20.07.2017 | (rsn) - Hallo Freunde. Der Mittwoch brachte wirklich mehr als eine akute Reizüberflutung mit sich. Ich fange am besten mal ganz vorne an, denn dann laufe ich nicht Gefahr, irgendwas zu vergessen!
Morgens, eine ganze Weile vor dem Start, bekam ich direkt eine sehr unschöne Nachricht, die alles andere als cool war: "Du, ich bin raus, krank, mich hat's erwischt und ich kann nicht starten…Viel Erfolg heute!“ Diese Nachricht kam von Sibi (Marcel Sieberg) und machte mir natürlich erst mal keinen Mut für die Etappe. Sibi alter Kumpel - gute Besserung, sehr schade, dass Du raus bist, wir werden an dich denken!
Weiter ging es dann mit der nächsten großen Hiobsbotschaft und dem Ausstieg von Marcel Kittel. Gibt es eigentlich was beschisseneres, als nach fünf Etappensiegen und mit dem Grünen Trikot auf den Schultern aussteigen zu müssen? Ich glaube kaum! Das ist wirklich super bitter für Marcel und ich denke, auch wenn es noch sehr spannend geworden wäre im Kampf mit Matthews, hätte Marcel es in Paris schaffen können, das Trikot zu gewinnen - von möglichen weiteren Etappensiegen abgesehen.
Ich habe Marcel gesehen nach seinem Sturz. Glaubt mir, der sah echt nicht gut aus und hat definitiv solange gekämpft, bis es nicht mehr ging. An dieser Stelle meine absolute Hochachtung und Anerkennung der Leistung. Wie er schon selber sagte, muss er jetzt einfach das Positive sehen und Mitnehmen. Nächstes Jahr kommt er wieder und greift erneut an. Die Tour ist und bleibt eben unberechenbar! Ich denke, ich bin mit meiner Sicht auch bei weitem nicht der einzige im Feld und weiß auch von all meinen Teamkollegen, wie schade sie das fanden.
Aber wo war ich eigentlich während dieses Sturzes von Marcel?
Kurz vor dem ersten Berg ist mir aus irgendwelchen Gründen vorne die Kette runter geflogen und ich musste, ob ich wollte oder nicht, eine kurze Zwangspause einlegen. Da absolut feststand, das wir alle über diesen ersten Berg drüber mussten, kam mir das mit der Kette natürlich in dem Moment alles andere als gelegen. Im Augenblick meines Defektes hatten wir grade noch die erste Phase des Berges unter den Rädern, bei der es mit 3-5% so leicht ansteigend daher ging. Kurz danach wurde es dann steiler.
Ich war also grade dabei, mich wieder durch die Autos nach vorne zu bewegen, als plötzlich ein riesiger Haufen Rennfahrer auf der Straße lag. Inklusive Kittel und Barguil. In dem Moment kotzt Du natürlich erst mal, weil die Straße komplett blockiert ist und weil Du deinen guten Schwung wieder abgeben musst. Auf der anderen Seite kann ich vielleicht aber auch von Glück reden, dass ich da nicht auch lag. Die Aktion mit der Kette war wohl der göttliche Beistand, der uns zuletzt von Pfarrer Georg aus Tirol zugesprochen worden war.
Glücklicherweise hat Sky dann vorne etwas piano gemacht und alle Fahrer hatten so die Chance, wieder ins Feld zurück zu kommen, ich also auch - und ebenfalls Marcel Kittel. Der sah allerdings alles andere als gut aus: Komplett die Schulter aufgerissen und insgesamt kein schöner Anblick…er sah wirklich aus wie ein Schnitzel! Ein anderer Vorteil war, dass sich die Gruppe des Tages, die sich auf dem Weg zum ersten Anstieg abgesetzt hatte, auch ein bisschen festigen konnte. Mit unserem Primož Roglič hatten wir da natürlich unseren besten Mann mit drin und wie gestern schon erwähnt, war auch genau das für heute der Plan. Insofern also doppeltes Glück bei uns.
Zurück im Feld waren wir dann schon wieder auf dem Weg zum nächsten Col und ich sage Euch: Der Moment, in dem Du am Schild "Sommet á 24Km“ (Gipfel in 24Km) vorbeikommst, ist auch unbezahlbar. 24 Kilometer bergauf…was soll denn das? Absolut unnötig, wenn Ihr mich fragt! In Gedanken noch bei diesem dämlichen Schild, ging mein Blick wieder nach vorne und ich konnte sehen, dass Sky in gewohnt routinierter Manier das Feld anführte und es somit einigermaßen erträglich war, selbst für mich.
Nach drei Kilometern des Kletterns (Man bedenke: es verblieben da noch 21Km bis oben!) musste ich dann aber kurz mal schlucken. Sehe ich doch, wie vorne der Contador mit dem Quintana im Schlepptau anfängt, Faxen zu machen! "Nicht Euer Ernst!“ war mein einziger Gedanke und ich griff da schon automatisch fester an den Lenker. Es dauerte dann auch nur ein paar Sekunden und das ganze Feld erinnerte sich an das gute alte Prinzip der Zellteilung, bei dem die neuen Zellen grundlegend immer etwas kleiner werden. Ein Blick auf meinen Wattomat zeigte auch wieder stolze 400W an . Ich hatte glücklicherweise aber zur Abwechslung mal sehr gute Beine. Ich fuhr dann also von Gruppe zu Gruppe und war irgendwann mit André (Greipel) und Dege (John Degenkolb) unterwegs.
Heute war es irgendwie fast ein bisschen geil, berghoch zu fahren und ich hatte sogar Fans aus meiner Heimatstadt Magdeburg am Wegesrand, die die Straße ordnungsgemäß mit einem großen "Wagi“ bemalten. Ich glaube, das muss "Teflon-Kreide“ gewesen sein, denn es rollte da gleich viel besser. Ein dickes Danke dafür an Matze und seine Familie!
Über den Gipfel sind wir dann also verhältnismäßig gut drüber gekommen und sehen dann doch tatsächlich in der Abfahrt auf einmal ein riesiges Feld vor uns. Es hieß dann also, die Abfahrt mit Vollast hinunter und zusehen, dass wir da reinkommen. Das klappte auch und wir waren pünktlich zum Beginn des Telegraphenberges wieder dabei. Das Feld hatte da schon gute 10 - 12 Minuten auf Froome und alle Kapitäne waren längst vorne. Dementsprechend konnte hinten keiner mehr irgendwelche sinnvollen Ambitionen haben und es keimte Hoffnung in mir, dass das meine heutige finale Gruppe sein könnte. Jetzt dürft Ihr natürlich nicht denken, dass das dann eine Kaffeefahrt war - nee nee! Das waren alles gute Fahrer, die normalerweise einen Berg locker hochfahren, während ich hinten schon den Lenker verbiege.
Wir sind dann also schleunigst nach ganz vorne im Feld gefahren und haben versucht, den Haufen etwas zu maßregeln. Selbstverständlich ist dann immer mal einer aus der Reihe getanzt, aber wir haben es ganz gut hinbekommen, die immer direkt wieder zurück zu pfeifen! Die 12 Kilometer zum Telegraph haben wir dann also wirklich mit gut 90 Fahrern bewältigt und durften uns dafür über vier Kilometer Abfahrt zum Galibier freuen.
Meine Freude am Schild "Sommet á 17 KM“ könnt Ihr Euch wahrscheinlich vorstellen… Und so begann das Spiel dann natürlich wieder von vorne und einige hatten immer wieder nervöse Beine…Aber auch das haben wir mit gutem Zureden und etwas Geduld hinbekommen, denn es gab ja nun wirklich keinen Blumentopf mehr zu gewinnen! Gut war auch, dass wir von der Zeit her alle super safe waren und als dass dann auch der letzte begriffen hatte, war das Ding geritzt und wir fuhren geschlossen über das Dach der Tour zum Ziel. Hätte mir am Vorabend einer erzählt, dass das so läuft, hätte ich es nicht geglaubt!
Was aber geschah zu der Zeit eigentlich ganz vorne?
Wie Ihr wisst, hatte Primož gestern ja "Ruhetag“ und war mit mir ganz hinten unterwegs. Sein fragendes Gesicht, als er da nach jeder Führung im Gruppetto nach hinten schaute und niemand an ihm vorbeifahren konnte, ließ ja schon erahnen, dass da irgendwas in seinen Beinen schlummerte, was noch Großes mit sich bringen konnte. "Alter, Du killst hier noch alle heute, mach ruhig!“ war das Einzige, was ich immer wieder zu ihm sagen konnte!
Und heute hat sich das dann bewahrheitet: Wir hatten kurz vor dem Gipfel des Galibier den Funk im Ohr und haben so natürlich mitbekommen, dass Primož vorne das komplette Rennen zersägt. Das alles live zu hören, war natürlich neben der eigenen guten Lage in der Riesengruppe ein weiterer Grund zur Aufregung und wir hatten wirklich ein gutes Gefühl. "Rogla“, wie wir Primož nennen hatte uns vor der Etappe auch erklärt, dass er es heute unbedingt probieren will und wir staunten nicht schlecht, dass er uns beim Frühstück quasi schon genau sagen konnte, wann er wo sein wollte und wo ein guter Abschnitt sei zum Angreifen. An manchen Tagen ist Rogla da auch ganz anders unterwegs und du musst ihn regelrecht davon überzeugen dass er sich nicht verstecken muss. Heute jedoch war das nicht nötig. Der Junge fuhr und fuhr und hängte wirklich alle ab - und das waren auch alles keine Pfeifen heute, ganz im Gegenteil!
Kurz vor dem Gipfel erlebten wir also den so sehr ersehnten Etappensieg für unser Team Lotto NL Jumbo ich fuhr regelrecht mit Gänsehaut über diesen Gipfel in knapp 2700m Höhe. Für mich ging in dem Moment ein Traum in Erfüllung - einmal mit dem Team eine Tour-Etappe gewinnen, geil! Man muss sich das mal geben: Rogla war grade im Ziel, da hatten wir noch gute 30 Kilometer zu absolvieren. Das ist doch crazy!
Wir knallten also mit einem richtigen Hochgefühl noch die finale Abfahrt zum Ziel runter und im Teambus war dann nur noch Party angesagt. Der Champagner, der uns zu Beginn der Tour in der Champagne noch nicht gegönnt war, stand im Bus kalt und wir haben direkt da schon angestoßen. Später im Hotel natürlich noch mal! Rogla war megahappy, alle freuten sich und die Stimmung war so gut wie nie seit dem Start in Düsseldorf. Man könnte also sagen, bei uns haben heute endlich nach dem vielen Pech auch mal alle Puzzle-Stücken zusammengepasst und es war der perfekte Tag.
Und um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen: Heute war auch noch der Tag, an dem die Chefs unserer beiden Hauptsponsoren Lotto und Jumbo mit im Teamwagen saßen und das Rennen direkt miterleben konnten. Besser kann es ja wohl nicht laufen!
Und wie gesagt: Sicherlich gehört auch viel Glück und "zur rechten Zeit am rechten Ort“ zu so einem Sieg. Aber wenn Primož nicht so super stark wäre, würde all das nicht klappen. Auch wenn ich selbst wohl an diesem Tagessieg nur minimale Anteile habe, weil ich den Jungen immer wieder mental aufbaue, wenn er mal wieder denkt, er sei nicht gut, so ist das ein riesengroßer Erfolg für uns alle im Team. Vom Koch über die Mechaniker bis zu den Fahrern, können wir alle stolz sein.
Gestern konnten Paul Martens und Timo Rosens als einzige Fahrer bei uns den Primož noch etwas supporten und haben ihn vorne in den entscheidenden Berg (als die Gruppe ging) reingefahren. Das zeigt, wie stark der Junge eigentlich ist und ich komme nicht drumherum, Euch noch kurz zu erzählen, was er eigentlich für ein echter "Typ“ ist! Vor ein paar Tagen sage er "Also Junge, wenn Du hier gewinnen willst, musste schon verdammt stark sein!“ oder gestern im Gruppetto "Du Wagi, sag mal, tun Dir auch grade die Beine weh?" …Wenn der wüsste, was ich für Schmerzen habe!
Ihr seht also, der Junge weiß gar nicht, was er eigentlich drauf hat und wird sich vielleicht nach heute mal ein paar Gedanken machen müssen! Am Samstag haben wir ja noch das zweite Zeitfahren - und dass ist eigentlich seine Paradedisziplin. Bis dahin kann er jetzt noch mal schön piano machen und dann gucken wir mal!
Wie wir auch wissen, ist er ja ehemaliger Skispringer und war in dem Zusammenhang auch schon Juniorenweltmeister.
Seit 2013 ist er nun Radprofi und manchmal kommt der Skispringer in ihm aber auch noch durch: Vorgestern haben wir uns das Höhenprofil der Etappe gemeinsam angeschaut und da sagte er ganz trocken: "Jungs - schaut mal: die kleine Abfahrt vom Col du Telegraph ist ja quasi sowas wie ein Schanzentisch - die wirst du nutzen, um dann über den Galibier drüber zu fliegen.“ …is klar!
Und ich muss auch sagen, so langsam werden mir einige Dinge klar. Ich war im Dezember mit Rogla auf Mallorca im Trainingslager, wo er übrigens überwinterte, und wir konnten da einfach nicht wirklich zusammen trainieren. Für mich war es zu schnell und für ihn war es zu langweilig… Ich hätte es wohl da schon ahnen müssen, dass das kein Zufall sein konnte.
Zum Abschluss noch ein kleines Zitat von Kneesi (Christian Knees) gestern im Ziel: "So Wagi, Etappe geschafft…Und was machst Du jetzt? Direkt in die Wagnerrechte?“
Denkt also dran: Ihr könnt noch bis Sonntag hier an unserem Gewinnspiel Teilnehmen und mit einem Bild von Euch in der "Wagnerrechten" sowie einer Schätzung zu meinem Rückstand in Paris ein Wagi-Trikot und vieles mehr gewinnen!
Jetzt aber genug für heute. Schön, dass Ihr bis hier durchgehalten habt - morgen gehts weiter.
Euer Wagi und Paddi
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