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23.07.2017 | (rsn) - Marseille, eine Stadt, die in meiner sportlichen Laufbahn noch nicht allzu oft in Erscheinung getreten ist und somit eine Stadt, die mich heute sehr positiv überrascht hat. Bereits beim Warmfahren und Abfahren des Kurses gemeinsam mit Paul Martens und Primož Roglič ist uns das wundervolle Panorama der Hafenstadt aufgefallen. Und ich muss wirklich sagen, dass das heute einer meiner schönsten Zeitfahrkurse aller Zeiten war. Tolle Aussichten, schöne Blicke und ein Asphalt, der zu unserer Freude auch nicht typisch französisch war, sondern super rollte. Jede Menge Zuschauer gab es auch, und mit dem spektakulären Start/Ziel im Stadion war das Rennen einmal mehr perfekt inszeniert.
Wir stellten sogar fest, dass heute neben vielen Niederländern auch immer wieder deutsche Fans am Rand standen, und so amüsierte ich mich mit Paul köstlich, als wir beim Vorbeirollen irgendwo vom Straßenrand hörten, wie jemand uns zurief: "Ey, richtig geile Karre!“. Was uns ebenfalls bereits beim Einrollen klar wurde, war dass unser Skispringer (Primož) wirklich einfach zu viel Bums hat. Der ist uns beim Warmfahren schon permanent zu schnell gewesen - ohne dass er es gemerkt hat natürlich.
Der Kurs war also cool und die einzige Schwierigkeit war dieser recht steile Berg hoch zum Wahrzeichen der Stadt. Aufgrund der langen Rampen erinnerte mich das so ein bisschen an die berühmte steile Wand von Meerane, nur ganz ohne Kopfsteinpflaster. Das hatte richtig Flair!
Mit Blick auf das morgige Finale wollte ich mich heute im Rennen weitestgehend schonen, wusste aber auch, dass der Kurs für mich super war und ich da ordentlich zügig drüber rollen kann. Da ich dank meiner glanzvollen Bergetappen bereits als Vierter von der Rampe rollen durfte, hatte ich ja ein bisschen damit geliebäugelt, vielleicht kurz mal auf dem "Hot Seat“ sitzen zu dürfen. Das ist dieser Platz, wo du als Führender wartest, bis ein anderer Fahrer schneller ist.
Allerdings wurde mir beim Betreten der Startzone erst mal wirklich klar, wer da anscheinend hinter mir fährt. Da kam nämlich kein Geringerer als Taylor Phinney, seines Zeichens Zeitfahrer par excellence. Er war schon Vizeweltmeister und mehrfacher US-Meister in dieser Disziplin. Insofern war die Illusion mit der Bestzeit im Ziel also erst mal hinfällig und ich fragte ihn, ob er denn direkt hinter mir dran sei. Nun müsst ihr Euch mal ein Interview mit diesem legendären Typen ansehen, damit ihr die geniale Stimme von ihm im Ohr habt und seine gechillte Art zu sprechen, die immer klingt, als hätte er grade 'nen riesigen Joint geraucht…
Er antwortete also "Yes, Robert“ und ich fragte, wann er vorhätte, mich einzuholen. "I think pretty soon!“ war seine Antwort. Mich hätte es fast zerrissen vor Lachen. Hört Euch den echt mal an! Eingeholt hat er mich dann erstaunlicherweise erst recht "spät“, etwa sechs Kilometervor dem Ziel. Ihr seht: Das
Zeitfahren lief generell bei mir gar nicht so übel. Vor mir war Rudi Selig gestartet und davor mein Teamkollege Tom Leezer… Und so ergab sich die skurrile Situation, dass wir oben an der Wallfahrtskirche alle mehr oder weniger hintereinander ankamen.
Vorne Tom, 40 Meter dahinter Rudi, dann 40 Meter weiter ich und wieder 40 Meter danach Taylor. Vier Typen also im Verfolgungsmodus an der Wand von Marseille. Auf der Abfahrt kam Taylor dann vorbei und ich machte Platz, Rudi rollte mir bergab etwas weg und Tom holte ich noch ein. Alles in allem also ein schönes Rennen und dank der Zuschauer noch mal ein toller Moment für mich. Den Hot Seat hatte Taylor dann natürlich inne und er saß da auch ne ganze Weile.
Während wir das Rennen also recht locker nahmen, stand dagegen für Primož noch mal einiges auf dem Plan. Er war zwar entspannt, hatte sich aber minutiös vorbereitet. Er hatte sich einen exakten Zeitplan für das Warmfahren gesetzt und genau überlegt, wann er noch was isst, damit es noch mal so richtig kracht heute. Während ich mich mit Tom und Dylan Groenewegen nach dem Rennen noch ausfuhr und im Bus duschte, machte unsere Hoffnung des Tages sich also warm und wir drückten ihm alle die Daumen. Zum Glück waren wir schnell im Hotel und konnten uns sein Rennen also im Fernsehen und in der "Wagnerrechten" angucken. Wir waren wirklich aufgeregt!
Uns fiel von Anfang an auf, dass Rogla heute mit einer recht hohen Trittfrquenz unterwegs war, was für ihn nicht ganz so typisch ist. Dennoch kam er gut vorwärts und hatte guten Vortrieb. Am Anstieg dann wechselte er jedoch das Rad und da wussten wir, dass irgendwas nicht stimmte.
Leider ist es so, dass Du nach einem Radwechsel meist aus dem Tritt bist und nur schwer wieder
zurück ins Rennen findest - erst recht, wenn es so kurz ist wie heute.
Trotzdem kämpfte er sich tapfer bis zum Ziel durch und wird am Ende mit 49 Sekunden Rückstand noch Vierzehnter. Aber was war los? Rogla berichtete uns, dass bereits nach 500 Metern seine Schaltung nicht mehr funktionierte und dass er so das komplette Rennen bis zum Berg quasi nur mit einem Gang fuhr. Ihm fehlte also der entscheidende Vortrieb und wenn man eben "nur“ 54 fahren kann, wo andere mit 60 unterwegs sind, dann verliert man schon ordentlich Sekunden. Der Radwechsel kostet auch noch mal Zeit…und wenn man das addiert, will man gar nicht überlegen, was da heute möglicherweise drin gewesen wäre.
Wie konnte das aber passieren? Wir wissen es nicht genau, aber es kann sein, dass vielleicht die
Radkontrolle der UCI damit zusammenhängt. Vor einem Zeitfahren werden gewöhnlich immer alle Räder vermessen und kontrolliert, ob die Vorgaben des Reglements eingehalten wurden. So war es auch heute, jedoch wurden alle Räder zusätzlich auch gewogen und die Laufräder mussten ausgebaut werden. Es wurde also auch auf Gewicht, Motoren und sogar versteckte Magneten in den Laufrädern kontrolliert.
Ich begrüße diese Aktionen, aber es ist natürlich blöd, wenn Du da vor dem Start noch mal die komplette Karre zerlegen sollst. Ich glaube, das führte heute auch zu einigem Chaos… Es kann also sein, dass vielleicht beim Ein- oder Ausbauen irgendwas mit der Schaltung passiert ist. Primož nahm das Ganze zum Glück mit Fassung und sagte, er könne es ja nicht ändern und was solle er jetzt machen? Mutmaßen kann man viel - aber bitter bleibt es!
Aus deutscher Sicht ist das Zeitfahren auch wieder bemerkenswert: Vier Deutsche unter den ersten 13 im Tagesergebnis und ganz besonders stark finde ich einmal mehr Nikias Arndt auf Platz sieben. Gestern noch voll am Limit und heute wieder ganz weit vorne. Der Hammer! Auch hat er jetzt seinen Vertrag bei Sunweb um drei Jahre verlängern können und das ist sicherlich mehr als verdient. Man könnte auch fast glauben, der Niki kommt grade erst richtig in Fahrt und die Tour könnte ruhig noch zwei Wochen weiterlaufen. Tony auf Platz vier und Nils sowie Jasha auf 12 und 13 wollen wir natürlich auch noch lobend erwähnen.
Wer mir wirklich leid tut, ist unser Kämpfer Thomas De Gendt. Er hat nun offiziell nicht den Titel des angriffslustigsten Fahrers bekommen - und das, obwohl fast alle diese Ehrung bei ihm sehen würden. Nun soll das nicht bedeuten, dass Warren Barguil den Preis nicht verdient hat, aber Thomas war schon noch einen Zacken schärfer und geht nun leider völlig "leer“ aus. Man darf auch nicht vergessen, dass diese Wertung mit 20.000€ Prämie ausgestattet ist, worüber sich sicherlich alle im Team sehr gefreut hätten. Bei Sunweb freut man sich natürlich auch - aber da gab es ja nun auch schon mehr als genug Gründe…
Laut einer Umfrage auf Twitter hat Thomas sogar mit knapp 11.000 Stimmen zu 1800 Stimmen gegen Warren gewonnen. Allerdings wird der Preis natürlich von einer Jury vergeben und nicht von den Zuschauern. Vielleicht sollte man in Zukunft bei sowas auch die Sportlichen Leiter mit einbeziehen? Thomas ist natürlich enttäuscht…
Für Sonntag sind wir jetzt alle noch mal hoch motiviert! Am Abend gab es von unserem Koch einen schönen Burger, den wir uns nach Herzenslust belegen konnten und wir sind schon sehr fokussiert auf morgen Abend. Mittags fliegen wir alle von Marseille nach Paris und dort wird dann gegen 19 Uhr das große Finale stattfinden. Leider sehen die Wetterprognosen nicht so toll aus, also drückt mal die Daumen, dass es auf dem "Kartoffelacker“ der Avenue des Champs-Élysées nicht zu glatt wird.
Die Straße sieht im TV immer harmlos aus, es ist aber in der Realität echt noch mal oll. Wir haben noch vier Mann übrig, die sich für Dylan morgen komplett aufbrauchen werden und ich bin froh, dass es in diesem Jahr mit dem Zeitfahren ein bisschen entspannter am Vortag zuging. Im letzten Jahr kamen wir direkt aus den Alpen und ich war schon am Start platt wie selten.
Es trennen uns nun also nur noch knapp 100 Kilometer vom Zielstrich in Paris. Der Beginn wird traditionell entspannt und kurz vor Paris wird das Team Sky dann das Zepter übernehmen, bevor wir uns dann ein letztes Mal so richtig gegenseitig verkloppen auf den letzten Kilometern. Unser Titi Vockler wird bestimmt auch noch mal seine letzten Meter zelebrieren und in seiner unnachahmlichen Art angreifen, um sich von allen Fans zu verabschieden. Nach dem Zieleinlauf ist für ihn Schluss und er beendet die Karriere. Den Preis für das beste "Face“ hätte er übrigens wie immer sicher, also genießt noch ein letztes Mal seine unnachahmliche Mimik auf dem Rad!
Bevor ich morgen dann endlich die finale "Wagnerrechte" einnehmen kann, möchte ich Euch noch mal an die letzte Chance zum Gewinnen bei uns erinnern. Um 15 Uhr ist Feierabend. Also macht noch mal mit! Unser Gewinnspiel hat in den letzten Tage viele Teilnehmer gesehen und wir freuen uns über eure teilweise genialen Posts! Die #Wagnerrechte scheint Euch zu gefallen…
(Mindestens) Einmal werde ich mich also für Euch aus Frankreich noch melden, und danach müssen wir mal schauen, wie es weitergeht. Vielleicht fällt uns was schönes ein, wie wir uns in Zukunft hin und wieder hören, lesen oder sehen können. Und da wir hier in den letzten drei Wochen nun wirklich von Düften über Radmarken bis hin zu Matratzen und Büchern so ziemlich alles "beworben“ haben, was uns über den Weg lief, so möchten wir heute noch mal ganz kurz die Gelegenheit nutzen und Euch auf ein ernsthaft wichtiges Projekt hinweise. Dieses Projekt liegt uns beiden sehr am Herzen, da es sich mit dem Radsport-Nachwuchs in Deutschland befasst.
"radsport.land“ ist eine Kampagne mit dem Ziel, die Kinder- und Nachwuchsarbeit im deutschen Radsport zu fördern und den Radsport wieder mehr und vor allem nachhaltiger zu kommunizieren. Als "Wasserträger“ kann jeder die Kampagne auch sehr einfach unterstützen, und zwar, indem er das macht, was er vielleicht am liebsten tut: Radfahren. Schaut Euch die Website an und nehmt den Drive der letzten Wochen mit. Es wäre toll, wenn wir gemeinsam noch mehr erreichen können und richtig was bewegen!
Bis morgen, Euer Wagi und Paddi
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